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Die Sicherheit des Status quo

Von Eva Stanzl

Wissen
Nur ja nichts Neues: Dieser Polit-Aktivisten würde gerne konservative Werte beibehalten.
© © © Julie Dermansky/Corbis

Warum Menschen schlechte Systeme lieber erdulden, als sie zu verändern.


Wien. "Gott soll einen behüten vor allem, was noch ein Glück war", zitiert Friedrich Torberg seine Tante Jolesch. Mit seinen Büchern über die Tante Jolesch hat Torberg nicht nur dem jüdischen Leben im Wien und Prag der Zwischenkriegszeit, sondern auch dem Schönreden ein Denkmal gesetzt. Wer vom zweiten Stock aus dem Fenster fällt und nicht tot auf dem Pflaster landet sondern in einem Misthaufen, hat noch ein Glück gehabt. Und wem der Bäcker sagt, dass sein geliebtes Rauchfangkehrerbrot aus ist, der muss es  positiv sehen, etwa indem er sich sagt: Das Brot würde ja sowieso nur blähen.

<o:p></o:p> <p style="mso-margin-top-alt: auto; mso-margin-bottom-alt: auto" class="MsoNormal">Wenn eine Katastrophe gerade noch verhindert wurde, reden wir das Resultat schön. Können wir nicht verwirklichen, was wir vor hatten, tun wir das ebenfalls. Und wir beschönigen einen Status quo, der uns eine gewisse Sicherheit bietet, obwohl wir mit dem Zustand an sich rundheraus unzufrieden sind. Größer noch als die Unzufriedenheit ist nämlich die Angst vor Veränderung und dem Neuen, für das wir das Alte verlieren. <o:p></o:p>
US-Wissenschafter haben ergründet, warum ganze Gruppen oder sogar Nationen an Systemen festhalten, die miserabel oder gar zum Scheitern verurteilt sind. Die Psychologen Aaron Kay und Justin Friesen haben bestehende Studien verglichen und sie zu einem einheitlichen Bild zusammengefasst. Demnach gibt es vier Motive, warum Menschen ein bestehendes System rechtfertigen, selbst wenn ersichtlich ist, dass das System falsch, ungerecht und korrupt ist.

Schutz und Bestätigung

"Wird ein Familienmitglied von einem Fremden kritisiert, neigen wir dazu, uns auf die Seite unseres Verwandten zu stellen - selbst wenn wir in der Sache mit der Kritik übereinstimmen", berichten die Forscher im Fachjournal "Psychological Science". Eine ähnliche Haltung hätten wir gegenüber einem politischen System in Krisenzeiten: So waren die Amerikaner Präsident George W. Bush vor dem 11. September 2001 wenig zugetan. Nach den Terroranschlägen auf die Twin Towers in New York standen sie jedoch plötzlich hinter ihm. Sie suchten Bestätigung in ihrem System, weil sie dachten, dass es sie schützen würde.

Das Bedürfnis nach Sicherheit erstreckt sich noch weiter. Je stärker uns die Vorgaben eines Systems betreffen, desto weniger sind wir geneigt, uns gegen dessen Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Eine Befragung unter Studierenden habe gezeigt, dass sie ungerechte Regeln ihrer eigenen Universität, etwa zur Vergabe von Plätzen im Studentenheim, eher versuchen zu rechtfertigen als dagegen Einspruch zu erheben. Gegen Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem zeigten sie hingegen mehr Bereitschaft zum Aufstand - obwohl dieser Bereich die jungen Erwachsenen nur in wenigen Fällen betraf.

Blutige Diktaturen

Besonders wer ihm nicht entfliehen kann, redet sich sein System schön. Die Forscher erzählten einer Gruppe von Testpersonen, dass es ab sofort leichter sei, auszuwandern, und einer anderen, dass es nun schwieriger sei. Jene Probanden, denen gesagt worden war, dass das Auswandern schwierig ist, bewerteten ihr Land anschließend positiver als jene, die kaum Hürden sahen, die Zelte abzubrechen. Gibt zudem eine Regierung den Menschen nicht das Gefühl, dass sie ihr Leben selbst bestimmen können, etwa weil sie weitreichende, rigide Gesetze erlässt, bewerten die Menschen diese Gesetze als positiv. Damit überzeugen sie sich selbst, dass schon alles seine Richtigkeit hat. Negativ werden hingegen Veränderungen wahrgenommen.

Je unfreier ein System, desto größer die Angst seiner Mitglieder vor dem Neuen. Insgesamt kommen die US-Forscher Kay und Friesen zu dem Schluss, dass der Mensch eher dazu neigt, bestehende Systeme zu unterstützen, als sich für einen Wandel einzusetzen, weil das, was wir kennen uns mehr Geborgenheit vermittelt als das unbekannte Neue.

Ein Umdenken der breiten Masse - wie im Frühjahr im arabischen Raum - wird nur dann möglich, wenn der Leidensdruck überschäumt und sich gleichzeitig die Gelegenheit bietet, etwas zu verändern.

Nordkorea hatte dafür noch keine Gelegenheit. Freude und Trauer, die sich zu einer Massenhysterie zusammenfinden: Seit dem Tod des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-il am 19. Dezember lebt sein Volk einen Trauerrausch aus. Doch wie kommt es, dass eine ganze Nation über Jahrzehnte von Diktatoren so sehr unterdrückt wird, die diese sogar ihre Gefühle beherrschen?

"Nordkorea ist eine blutige Diktatur, es wird hingerichtet und gefoltert. Wenn eine Tötungsmaschinerie das Land beherrscht, ist jeder Versuch, sich aufzulehnen, dem Selbstmord gleich", sagt der tschechische Schriftsteller Pavel Kohout, Mitbegründer der Menschenrechtsbewegung "Charta 77": "Nur ganz besonders starke Menschen wehren sich in so einer Situation, der Rest versucht, irgendwie zu überleben."

Laut dem Wiener Psychoanalytiker August Ruhs reicht die Bedeutung, die Nordkoreas Machthabern als "der Karikatur eines kommunistischen Regimes" von der Bevölkerung entgegengebracht wird, weit über die Grenzen der Befriedigung des banalen Bedürfnisses nach Sicherheit hinaus. "Ähnlich wie unter anderen autoritären Systemen wie unter Adolf Hitler in Deutschland, projizieren Mitglieder des nordkoreanischen Volkes ihr Ich-Ideal auf einen außenstehenden Führer und verbinden sich zu einer mehr oder weniger gleichgeschalteten Masse." Die Massenhysterien - ob erzwungen oder nicht - seien somit auch ein Ausdruck des Glaubens, durch den Verlust ihres "geliebten" Führers nicht nur die Liebe eines Objekts verloren zu haben, sondern auch vom Schicksal verlassen worden zu sein.

Auch während der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei im Zweiten Weltkrieg drohte all jenen, die gegen ihre Besatzer aufbegehrt hätten, die Hinrichtung. Das kommunistische Regime der 60er und 70er Jahre in Prag sei dagegen schon etwas müder geworden, so Kohout zur "Wiener Zeitung". Da ihnen nunmehr "nur" die Inhaftierung drohte, starteten Intellektuelle mit der "Charta 77" eine Petition und Bewegung für Menschenrechte, die schließlich zum Zentrum der Opposition wurde.

Autonomie und Freiheit

"Es gibt auch Systeme, die der Bevölkerung garantieren, dass sie gut leben können, solange sie sich politisch nicht einmischen: keine Arbeitslosigkeit, kein großer Unterschied zwischen Arm und Reich, und das mit Sicherheit. Wenn sich ein Volk für diese Form von Sicherheit entscheidet, ist die Diktatur natürlich bequemer. Wer aber lesen und sagen möchte, was er will und denkt, muss für Autonomie und Freiheit kämpfen", sagt Kohout. Manchmal würde das Sicherheitsdenken gar zur Ideologie. So seien viele Bürger der DDR eigentlich der Meinung gewesen, sie hätten es besser als der Westen.

"Die Frage von Freiheit versus Sicherheit bestimmt die Ausrichtung von Gesellschaftsformen wesentlich. In westlichen Demokratien ist der tragende Gedanke die Freiheit, in links-totalitären Gesellschaften ist es die Sicherheit", betont Ruhs. Beides gleichzeitig ist nicht zu haben.

"Durch Autonomie werden Selbstsicherheit und Selbstverantwortung erworben zum Preis von Angst. Denn dann ist man weitgehend auf sich selbst gestellt", sagt der Psychoanalytiker. Aus der Angst vor dem Fremden könne einerseits eine ablehnende Haltung gegenüber Andersartigkeit entstehen, andererseits die Lust auf Neues. Werden wir also Fremdenhasser oder Afrikaforscher? "Wofür sich eine Gesellschaft entscheidet, hängt davon ab, wie die reiferen gegenüber den unreiferen Anteilen in ihr verteilt sind", sagt Ruhs. Je autonomer man wird, desto mehr schiebt man die Sicherheit in den Hintergrund und verlangt nach Neuem, und desto mehr macht Veränderung Freude. In diesem Sinn: Ein spannendes neues Jahr.