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Eine Überdosis Digital

Von Heiner Boberski

Wissen

Experte befürchtet, dass wesentliche menschliche Fähigkeiten verkümmern.


"Herr Spitzer, ich ballere hier gerade mit einer virtuellen Kalaschnikow. Wenn ich eine reale hätte, wären Sie der Erste, den ich umnieten würde. PS: Was Sie über den Zusammenhang zwischen virtueller und realer Gewalt sagen, ist vollkommener Unsinn."

Mit solchen E-Mails muss der renommierte deutsche Psychiater und Gehirnforscher Manfred Spitzer leben. Seit er in der Öffentlichkeit die Auswirkungen von zu viel TV-Konsum und Computerspielen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, höchst dramatisch darstellt, muss er sich sagen lassen, dass ihn viele junge Leute hassen. Seine Replik darauf: "Die Wahrheit ist zuweilen auch für Fünfzehnjährige unbequem."

Eine solche Wahrheit zitiert Spitzer in seinem gerade erschienen Buch "Digitale Demenz" aus dem jüngsten Jahresbericht der Suchtbeauftragten der deutschen Bundesregierung, Mechthild Dyckmans, vom 22. Mai 2012: "Etwa 250.000 der Vierzehn- bis Vierundzwanzigjährigen gelten als internetabhängig, 1,4 Millionen als problematische Internetnutzer." Innerhalb von nur fünf Jahren habe sich in Deutschland die Spielsucht verdreifacht, betroffen sind vor allem arbeitslose junge Männer.

Dass das Internet eine suchterzeugende Wirkung hat, wissen Forscher wie Spitzer seit mehr als einem Jahrzehnt. Das Suchtzentrum im Gehirn, wo Endorphine ausgeschüttet werden, werde "nicht nur durch Suchtstoffe, sondern auch durch digitale Medien aktiviert, also beispielsweise durch ein Computerspiel".

Spitzer erzählt, er sei Gutachter in einem Prozess gewesen, bei dem es um den brutalen Mord an einem Obdachlosen ging. Der Angeklagte hatte zuvor ein virtuelles Kampfspiel gespielt, "in dessen Verlauf man vor allem miteinander ringt und sich schlägt und tritt, nicht zuletzt ins Gesicht". Als Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm hat Spitzer viele Computerspielsüchtige und Internetabhängige als Patienten behandelt. Er sagt: "Neue Medien haben wie Alkohol, Nikotin und andere Drogen ein Suchtpotenzial." Auch Computer- und Internetsucht können verheerende Folgen für die Betroffenen haben.

Andere, als Vorbilder betrachtete Länder sind uns, auch was diese Folgen betrifft, voraus: "Vor fünf Jahren verzeichneten Ärzte in Südkorea, einem hochmodernen Industriestaat mit weltweit führender Informationstechnik, bei jungen Erwachsenen immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Sie nannten das Krankheitsbild digitale Demenz."

Wenn jemand qualifiziert ist, solche Entwicklungen aufzuzeigen, so ist es Spitzer, der sich seit über zwanzig Jahren mit den durch Lernen bedingten Veränderungen des Gehirns befasst. Vorwürfe, er hätte keine Ahnung, worüber er schreibe, so könne nur ein passionierter Spieler von Gewaltspielen deren Faszination und deren Effekte auf die Psyche beurteilen, weist Spitzer trocken als falsch zurück. Auch der Alkoholiker könne "die Auswirkungen von Alkohol auf seinen Körper und Geist deutlich schlechter einschätzen als der ihn behandelnde Psychiater".

Laut einer repräsentativen Studie verbringen in den USA Jugendliche bereits mehr Zeit mit digitalen Medien - gut siebeneinhalb Stunden täglich - als mit Schlafen. Für Spitzer herrscht "im höchsten Maße Anlass zur Besorgnis". Und so zitiert er eine wissenschaftliche Studie nach der anderen, um seine Warnungen vor dem ausufernden Umgang mit digitalen Medien zu untermauern, denn dieser bleibe im Denkzentrum des Nutzers nicht ohne Folgen: "Zu den wichtigsten Erkenntnissen im Bereich der Neurobiologie gehört, dass sich das Gehirn durch seinen Gebrauch permanent ändert. Wahrnehmen, Denken, Erleben, Fühlen und Handeln - all dies hinterlässt sogenannte Gedächtnisspuren."

Man kann das heute sichtbar machen, die Synapsen, die sich verändernden Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, mit denen das Gehirn arbeitet, "können heute fotografiert und sogar gefilmt werden. Man kann zusehen, wie sie sich bei Lernprozessen verändern." Der Umgang mit digitalen Medien verleite dazu, denken zu lassen. Damit werde man aber kein Experte, erklärt Spitzer. Telefonnummern sind gespeichert, den Weg zeigt das Navigationssystem. "Wer etwas wissen will, der googelt; seine Fotos, Briefe, Mails, Bücher und Musik hat man in der Wolke. Selber denken, speichern, überlegen - Fehlanzeige."

Mit dem Gebrauch eines Satellitennavigationssystems im Auto nehme die Fähigkeit ab, sich örtlich zu orientieren. Zur Orientierungsfähigkeit dient ein bestimmter Teil des Gehirns, der Hippocampus. Forscher fanden heraus, dass Londoner Taxifahrer ohne Navi einen größeren Hippocampus haben als eine Kontrollgruppe. Spitzer führt Beispiele an, wie sich katastrophale Rechenfehler einstellen, ja Banker sich um 55 Milliarden verrechnen können, weil es kein überschlagsmäßiges Rechnen mehr gibt und man alles dem Computer überlässt, bei dem aber vielleicht einmal auf die falsche Taste gedrückt wurde.

Er sei nicht technikfeindlich, erklärt Spitzer, aber neue Technologien seien gefährlich, so habe man zum Beispiel früher zum Anpassen der Schuhe Kinderfüße geröntgt, ohne an Strahlenschäden zu denken. Der Bildung dienten die neuen Medien jedenfalls nicht: "Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen braucht man einen Computer zum Lernen genauso dringend wie ein Fahrrad zum Schwimmen oder ein Röntgengerät, um Schuhe anzuprobieren."

Besonders empört Spitzer, wenn man sozial schwachen Familien einrede, wie wichtig ein Computer zum Lernen sei, und diese dann unter Entbehrungen aus Sorge für ihre Kinder Computer kaufen. Das bewirke aber "genau das Gegenteil dessen, was sie für ihre Kinder wollen: bessere Bildungschancen".

Er verweist auf die Auswertung von Daten der Pisa-Studie durch Thomas Fuchs und Ludger Wößmann: "Ein Computer zu Hause führt zu schlechteren Schulleistungen. Dies zeigt sich beim Rechnen wie beim Lesen." Diese Autoren stellten fest: "Das bloße Vorhandensein von Computern zu Hause führt zunächst einmal dazu, dass die Kinder Computerspiele spielen. Das hält sie vom Lernen ab und wirkt sich negativ auf den Schulerfolg aus."

Spitzers eigenes Resümee lautet: "Die Computernutzung im frühen Kindergartenalter kann zu Aufmerksamkeitsstörungen und im späteren Kindergartenalter zu Lesestörungen führen. Im Schulalter wird vermehrt soziale Isolation beobachtet, wie amerikanische und mittlerweile auch deutsche Studien zeigen." Er verweist auch auf die "wahrscheinlich weltweit beste Langzeitstudie" aus Neuseeland, die über 1000 Neugeborene 26 Lebensjahre begleitet hat: "Je mehr in der Kindheit ferngesehen wird, desto geringer ist die Bildung der Kinder, wenn sie erwachsen sind."

Laut Spitzer steht fest, dass gerade auch die digitalen sozialen Netzwerke keineswegs zu besseren Kontakten, "sondern zu sozialer Isolation und oberflächlichen Kontakten führen". Er empfiehlt: "Ein Abendessen mit drei Freunden macht viel glücklicher und bewirkt viel mehr als dreihundert virtuelle Kontakte in Facebook."

Spitzers praktische Tipps am Buchende gipfeln in dem Appell: "Meiden Sie die digitalen Medien. Sie machen, wie vielfach hier gezeigt wurde, tatsächlich dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich. Beschränken Sie bei Kindern die Dosis, denn dies ist das Einzige, was erwiesenermaßen einen positiven Effekt hat. Jeder Tag, den ein Kind ohne digitale Medien zugebracht hat, ist gewonnene Zeit."

Zur Person
Manfred Spitzer
Der renommierte Gehirnforscher, geboren 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie und habilitierte sich für Psychiatrie. Der Autor vieler Bücher leitet die Psychiatrische Universitätsklinik und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm (Deutschland) und war zweimal Gastprofessor in Harvard.

Buchtipp:<br style="font-weight: bold;" /> Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Droemer Verlag, 368 Seiten, 20,60 Euro.