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Wir mögen unsere Genitalien nicht

Von Klaus Stimeder

Wissen

Warum es Penisse und Vaginas in den USA schwerer haben als in Europa.


New York - Vorhäute, Eishockey, Gott, Anne Frank: Heilig ist ihm nichts, schon seit langem nicht mehr. Der amerikanische Schriftsteller Shalom Auslander stellt selbstim an außergewöhnlichen Charakteren nicht eben armen US-Literaturbetrieb eine seltene Mischung dar. Der 42-Jährige, den das "New York Times Book Review" einen "virtuosen Humoristen" nennt und dem "Entertainment Weekly" bescheinigte, seine Arbeit stehe "für den unfreiwilligen Lachanfall bei einem Begräbnis", ist ein von Grund auf netter und gescheiter Kerl - der freilich Dinge sagt und schreibt, die andere, in der Regel religiöse Menschen, verlässlich zur Weißglut bringen.

" Die Puritaner wären froh, wenn wir nicht bei der Vorhaut aufhören würden!", sagt Auslander.
© © Sophie Bassouls/Sygma/Corbis

Bekannt wurde Auslander, der als Kind ultra-orthoxoder Juden in der Kleinstadt Monsey im Bundesstaat New York aufwuchs und dort eine streng religiöse Erziehung genoss, erstmals mit der Geschichtensammlung "Beware of god" (Simon&Schuster 2005, deutsch: "Vorsicht, bissiger Gott", Bloomsbury). Dieser folgte sein bisher größter kommerzieller Erfolg, "Foreskin’s Lament" (Riverhead 2007, deutsch: "Eine Vorhaut klagt an", Berlin Verlag). In beiden Werken setzt er sich so schonungslos wie lustig mit seiner Erziehung, seinem Glauben und allen daraus resultierenden Problemen auseinander. Auslander fiel als Twen vom orthodoxen Judentum ab; heute glaubt er "trotzdem immer noch an Gott. Irgendwie." Im Jänner erschien in den USA sein erster Roman, "Hope: A Tragedy" (Riverhead), in dem der Protagonist in ein Haus zieht, in dessen Dachboden niemand geringerer als Anne Frank haust, die den Holocaust überlebt hat, nach Amerika flüchten konnte und sich seitdem dort versteckt. (Fragen zu diesem, noch nicht auf deutsch vorliegendem Werk verbat sich Auslander mit der Begründung, sein deutscher Verleger habe ihm das aufgetragen, "und als Jude hüte ich mich davor, Deutsche zuviel zu verärgern.") Auslander schreibt regelmäßig für "Esquire", "Tablet", den "New Yorker" und die "New York Times" und gestaltet Radiobeiträge für die vielfach ausgezeichnete NPR-Kultsendung "This American Life" seines Freundes Ira Glass. Heute lebt Shalom Auslander mit seiner Frau und ihren zwei kleinen Kindern in Woodstock, New York.

Wiener Zeitung: In Ihrem Buch "Eine Vorhaut klagt an" beschreiben Sie anschaulich die Umstände der Geburt Ihres Sohnes und die seiner Beschneidung. Würden Sie anderen Leuten raten, ihre Söhne beschneiden zu lassen? Oder ist diese Praxis nur ratsam für Menschen, für die sie aus religiösen Gründen vorgeschrieben ist?Shalom Auslander: Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendjemandem empfehlen würde, sich einen Körperteil abzuschneiden - außer natürlich, wenn ich diesen Menschen wirklich hasse. Für mich hat die Beschneidung schon immer ein Paradoxon dargestellt. Die Juden sollen doch angeblich Gottes auserwähltes Volk sein. "Denn ihr seid das heilige Volk des Herrn, eures Gottes. Der Herr, euer Gott hat euch aus allen Völkern der Erde auserwählt, sein Volk zu sein, sein wertvoller Besitz", heißt es im Deuteronomium (dem fünften Buch Mose, der jüdischen Tora, Anm.). Und jetzt, soll der Herr hinzu gefügt haben, gehet hin und schneidet eure Schwänze ab? Das scheint mir eine seltsame Art, seine Zuneigung zu zeigen. Nachdem ich als orthodoxer Jude erzogen wurde und diesbezüglich immer noch Flashbacks habe, bin ich mit dieser Philosophie wohlvertraut - der Idee, dass wir dadurch an der Vollendung von Gottes Schöpfung teilnehmen. Aber ich persönlich glaube heute, dass es ein Haarschnitt auch getan hätte. Und nachdem wir uns mindestens alle paar Monate die Haare schneiden lassen, würden wir dem alten Mann da oben dann sogar drei-, viermal im Jahr die Ehre erweisen. Das Entfernen der Vorhaut ist ja ein einmaliger Akt und lässt sich nicht mehr rückgängig machen, nicht? Aber ich will ja nur  helfen.

Ende Juni erklärte ein Kölner Landesgericht die Praxis der Beschneidung Minderjähriger für rechtswidrig. In der Urteilsbegründung befand der Richter unter anderem, dass sie eine Missachtung des freien Willen des Individuums darstelle und religiöse Gründe als Legitimation dafür nicht ausreichen. Wie denken Sie darüber?

Ich kann Ihnen dazu folgendes sagen: Als Vater von zwei kleinen Kindern kommt es praktisch täglich, wenn nicht sogar stündlich vor, dass ich ihren freien Willen missachte: Sie wollen nicht essen. Ich zwinge sie zu essen. Sie wollen nicht schlafen. Ich zwinge sie, ins Bett zu gehen. Sie wollen, und bringen dafür all ihren Nietzscheanischen Willen auf, im Fernsehen "Spongebob" schauen - und ich sage nein, geht und räumt eure Zimmer auf. Angesichts des Urteils wünsche ich mir, dass jemand, der sich in einer Machtposition befindet - vielleicht Angela Merkel - endlich für Klartext sorgen und etwa sagen würde: "Leute, bitte, das ist wirklich beschissen. Hört damit auf, weil, wenn ihr es nicht tut, kriegt ihr eine auf die Schnauze." So nach dem Motto: Schluss mit den Gerichtsverfahren, mit den rechtlichen Winkelzügen, mit dem Herumgeeiere: Wenn Sie ihrem Kind die Genitalien abschneiden, okay, dann schneiden wir halt Ihre ab. Der Debatte um die Beschneidung das Mäntelchen eines Rechtsstreits umzuhängen ist albern, sie wird dadurch zu einer Formsache degradiert. Eine Regierung sollte in der Lage sein, zu sagen: "Das ist unsere Position. Wenn sie ihr Kind beschneiden lassen wollen, müssen Sie woandershin gehen."

Die Entscheidung des deutschen Gerichts hat Europa-weit eine Diskussion über die Praxis der Beschneidung angestoßen. Nachdem zuerst die Vertreter der etablierten Religionen, allen voran die der unmittelbar betroffenen jüdischen und muslimischen Gemeinden gegen das Urteil protestierten, sprangen Journalisten und Politiker von ganz links bis weit rechts auf den Debattenzug auf…

Ich würde gerne daran glauben, dass das Interesse am Thema Beschneidung deshalb so groß ist, weil jedem Erwachsenen die Interessen von Kindern am Herzen liegen. Aber wenn man sich anschaut, wie die meisten Erwachsenen ihre eigenen Kinder behandeln, merkt man schnell, dass das offensichtlich Bullshit ist.

Aber was sind jetzt ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass sich offenbar - allen voran in den deutschsprachigen Ländern - nahezu jeder Kommentator von Rang berufen fühlt, sich an dieser Debatte zu beteiligen?

Ich glaube, dass jedes Mal, wenn ein Mensch die Möglichkeit hat, ein Urteil über einen anderen abzugeben, das ihm ein Gefühl der moralischen Überlegenheit gibt, er das machen wird. Glauben Sie mir: Kein Mensch ist privat so moralisch korrupt wie einer, der öffentlich die Korruptheit eines anderen anprangert. Ich habe angesichts der Diskussion ein Bild von einem Mann im Kopf, das ich liebe: Er haut mit der Faust auf den Tisch, schimpft über das Übel und die Gefahren der Beschneidung, über die unnötigen Leiden und die Schmerzen, die sie verursacht - und dann trinkt er sein drittes Glas Gin Tonic aus, schreit seine Kinder an, dass sie gottverdammtnochmal endlich ins Bett gehen sollen, bevor er ins Badezimmer geht und sich beim Gedanken an seine Sekretärin einen runterholt. All das, während sich seine Frau in den Schlaf weint. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Akt der Beschneidung brutal, bösartig und archaisch ist. Aber als beschnittener Mann Anfang 40 kann ich Ihnen sagen, dass das, was am achten Tag meines Leben geschehen ist - meine Beschneidung -, bei weitem nicht das Schlimmste war, was mir in meiner Kindheit passiert ist. Mich persönlich würde es viel glücklicher machen, wenn das Gesetz schlechte Mütter bestrafen würde. Wenn es illegal wäre, dass Mütter ihre Kinder für ihre eigenen Unzulänglichkeiten verantwortlich machen, wäre meine eigene Kindheit unermesslich gesünder verlaufen. Die Tatsache, dass ich beschnitten wurde, hat eine verhältnismäßig winzige Rolle im Vergleich zu dem gespielt, was mich zu dem kaputten Mann gemacht hat, der ich bin. Ich weiß nicht, ob das, was ich da sage, für Ihre Frage relevant ist oder nicht. Aber nachdem ich es gesagt habe, fühle ich mich besser.

In Europa ist die Beschneidung nicht annähernd so verbreitet wie etwa in den USA, wo sich auch Menschen, die weder Juden noch Muslime sind, dem Verfahren unterziehen. In der Regel aus hygienischen Gründen.

Ich glaube, dass die Europäer ihre Genitalien prinzipiell mehr mögen als wir Amerikaner. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wenn man Europa und die USA vergleicht, gibt es eine Menge, was für Amerika spricht - aber nicht, wenn Sie ein Penis oder eine Vagina sind. Wir Amerikaner mögen unsere Genitalien wirklich nicht. Ich glaube auch, dass die Puritaner, die unsere Nation gegründet haben, genauso glücklich darüber wären, wenn wir nicht bei der Vorhaut aufhören, sondern das ganze verdammte Ding abschneiden würden. In diesem Zusammenhang ist auch unsere Populärkultur zu verstehen, unsere Musik, unsere Mode, in denen es immer nur um Sex geht - weil wir keine verdammte Ahnung haben, was wir mit diesen Dingern zwischen unseren Beinen anfangen sollen. Aber vielleicht sollten wir einen wie Justin fuckin’ Bieber fragen. Vielleicht weiß der’s.

Auch wenn sich die Folgen des Kölner Urteils noch nicht absehen lassen: Wie denken Sie über den Umstand, dass es, von allen möglichen europäischen Gerichten, ein deutsches war, dass die Beschneidung von Minderjährigen für rechtswidrig erklärt hat?

Ich habe mir vor ein paar Jahren in Spanien einen Stierkampf angeschaut und mit einem begeisterten Fan diskutiert, der darauf bestand, dass den Stieren das ganze nichts ausmache. Darüber lässt sich trefflich streiten. Das Problem ist nur: Es geht nicht nur darum, wie es dem Stier im Stierkampf geht, sondern auch darum, wie es uns dabei geht. Mit der Menschheit. Fuck the bull: Was passiert mit uns, wenn wir dem Spektakel zuschauen, von unseren Sitzen aufstehen und jubeln? Was immer sich der Stier dabei denkt - wertet es uns nicht ab, Leben auf diese Weise zu behandeln? Es muss doch eine schädliche Wirkung auf uns haben, oder? Und was, wenn der Stier wirklich nichts fühlen würde? Wir würden es trotzdem tun. Wenn wir bestimmte Dinge erlauben, verlieren wir dadurch etwas; wenn wir einfach daneben stehen und nicht wenigstens sagen: "Wow - Das ist echt Scheiße, was da passiert", machen wir uns mitschuldig. Ich hoffe jedenfalls, dass der Punkt, den das Gericht machen wollte, darin bestand, zu sagen: "Das ist eine beschissene Sache, die da passiert." Und es wertet uns nicht ab, zumindest darauf hinzuweisen.

Auf Ihrer Website findet sich ein satirischer Monolog, den Sie jüngst fürs BBC Radio produziert haben und im Rahmen dessen sie sich an praktisch allen antisemitischen Klischees abarbeiten, die es gibt. Wie antisemitisch sind die USA heute im Vergleich zu Europa?

Ich hasse es, Ihnen das sagen zu müssen, aber: Antisemiten gibt es nicht. Ein echter Antisemit, der die Juden hasst und sie für alles Schlechte in der Welt verantwortlich macht, würde an dem Tag, nachdem der letzte Jude in einem Ofen ermordet wurde, sofort die Schuld für alles Elend und Unglück in der Welt auf sich nehmen. Aber so eine Person gibt es nicht. Das erste, was ein Antisemit an dem Tag, nachdem der letzte Jude ermordet wurde, tun würde, ist, den Asiaten die Schuld an diesem Elend zu geben. Oder den Schwarzen. Oder den Homosexuellen. Menschen hassen. Wen sie hassen, ist irrelevant. Deshalb hasse ich sie alle. Ich stehe Ihnen jederzeit für Hochzeiten und Bar-Mitzwas zur Verfügung.

Website Shalom Auslander