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Orientieren wie die Fledermäuse

Von Frank Ufen

Wissen

Reflektierte Schallwellen und moderne SSD-Technik ermöglichen Erstaunliches.


Berlin. Obwohl der Kalifornier Dan Kish völlig blind ist, schafft er es, sich ohne Blindenhund und ohne irgendein technisches Hilfsmittel fast überall zurechtzufinden. Dadurch, dass er mit seiner Zunge ständig Schnalzgeräusche erzeugt, vermag er aus den charakteristischen Frequenzmustern der reflektierten Schallwellen zu erschließen, welche Objekte sich in seiner Umgebung befinden und wie weit sie entfernt sind. "Es ist so ähnlich wie die Echolot-Technik einer Fledermaus", sagt Kish. "Die Bilder, die vor meinem geistigen Auge entstehen, sind allerdings nicht so detailliert wie die Bilder einer Fledermaus. Diese Tiere haben einfach mehr Übung darin als Menschen."

Es gibt aber noch eine andere Methode: Statt Töne in Bilder werden Bilder in Töne verwandelt. Kürzlich haben die israelischen Forscher Amir Amedi und Ella Striem-Amit (Zentrum für Neurowissenschaften der Hebräischen Universität von Jerusalem) ein Gerät für sensorische Substitution (SSD) entwickelt, das es Blinden ermöglicht, mit ihren Ohren zu sehen. Die Forscher berichten darüber im Fachjournal "Neuron" (Band 70). Das Gerät besteht aus einer Miniaturkamera, die an einer Brille befestigt und an einen kleinen handlichen Computer oder ein Smartphone angeschlossen ist, sowie einem Kopfhörer. Die hochauflösenden Bilder, die die Kamera liefert, werden vom Computer automatisch in "Klanglandschaften" verwandelt, aus denen die Benutzer dieses Geräts eine ungeheure Menge an Informationen herausholen können.

Amir und Striem-Amit haben ihre Erfindung bereits einer ganzen Reihe von Praxistests unterzogen. Das erstaunliche Ergebnis: Nach durchschnittlich nur 70 intensiven Trainingsstunden waren die blinden Versuchspersonen nicht bloß imstande, Gesichter, Häuser und etliche andere Alltagsgegenstände zu identifizieren. Es gelang ihnen schließlich sogar, mehrere Gesichtsausdrücke voneinander zu unterscheiden, die räumliche Position anderer Menschen auszumachen und Buchstaben, Wörter und ganze Texte zu entziffern. Nach diesen vielversprechenden Resultaten machten sich die Forscher daran herauszufinden, was im Gehirn von Blinden vor sich geht, wenn sie lernen, das SSD-System immer besser zu beherrschen. Es zeigte sich überraschenderweise nicht nur, dass ihr visueller Kortex immer dann aktiviert war, wenn sie sich abmühten, Klanglandschaften zu deuten, überdies ergab der Befund, dass sogar ihre "Visual Word Form Area" in steigendem Maße aktiviert wurde - jene hochspezialisierte Gehirnregion, die bei Normalsichtigen in erster Linie dann auf Hochtouren arbeitet, wenn sie einen Text zu lesen.

Chancen für die Zukunft

Amedi und Striem-Amit schließen daraus zum einen, dass der visuelle Kortex in Wahrheit auf das Erkennen der Formen von Objekten ausgerichtet ist und dass er außer optischen auch akustische oder taktile Reize verarbeiten kann. Die israelischen Forscher vermuten zum anderen, dass es in den Gehirnen von Blinden Areale gibt, die selbst noch nach Jahren oder Jahrzehnten wiedererweckt werden können, um sie zur Verarbeitung optischer Reize zu verwenden. Und das würde bedeuten, dass es mit Hilfe der SSD-Technik eines Tages möglich sein könnte, das Sehvermögen Erblindeter wiederherzustellen.

"SSD-Systeme könnten Blinde oder Sehbehinderte dabei unterstützen zu lernen, komplexe Bilder zu verarbeiten, so wie es in unserer Untersuchung praktiziert worden ist", erklärt Amedi. "Oder sie könnten als ein Sinnesdaten-Übersetzer dienen, der visuelle Signale, die von externen Vorrichtungen wie künstlichen Augen hervorgebracht werden, mit Hilfe von Daten aus anderen Sinneskanälen so aufbereitet, dass hochauflösende Bilder entstehen."