Zum Hauptinhalt springen

Der verbotene Reiz des Okkulten

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Zentrale Fragen nach der Zukunft und dem Geschehen nach dem Tod.


An einem Mittwoch gegen 23.30 Uhr: Eine Freundin, deren tatsächlicher Name nichts zur Sache tut und die ich Ingrid nennen will, ruft an und bittet mich, ihr die Runen zu werfen: Sie möchte herausfinden, ob sie sich mit einem bestimmten Mann, der ihr sympathisch scheint, am nächsten Tag treffen soll. Meine Weigerung ist der Anfang von Ende unserer Freundschaft.

Wer Wahrsagemethoden verwendet, opfert unter Umständen seinen eigenen freien Willen.
© corbis

Ingrid ist keine Spinnerin: Etwa 45 Jahre ist sie alt, unterrichtet in einer Schule in Wien Deutsch und Geschichte, ist alleinerziehende Mutter einer 14-jährigen Tochter. Sie kleidet sich modisch, fast auffällig elegant. Und sie glaubt an die heilenden Kräfte von Edelsteinen, ist Reiki-Meisterin und befragt vor jeder größeren Entscheidung die Runen oder die Tarot-Karten. Manchmal pendelt sie auch, um zu ihrem Entschluss zu gelangen. Und sie ist Atheistin.

Auf gewisse Weise spiegelt sie unsere gegenwärtige Gesellschaft, die in spiritueller Hinsicht ein Bild der Gespaltenheit bietet: Während auf der einen Seite nahezu alles ins Lächerliche gezogen wird, was mit Glauben zu tun hat und eine Religion der Wissenschaftlichkeit errichtet wird, haben auf der anderen Seite Okkultismus und esoterische Praktiken im Alltag Einzug gehalten. Und sei es nur in Form der Horoskope in diversen Zeitungen und Zeitschriften.

Horoskope für alle

Sie sind in einem Ausmaß zur Normalität geworden, dass man sie nicht mehr als Wahrsagerei und damit Okkultismus wahrnimmt. Dennoch sind sie genau das, wenngleich in simplifizierter Form. Wer an sie glaubt, möge sich vor Augen führen, dass jedes dieser Horoskope für rund eine halbe Milliarde Menschen zutreffen müsste, nämlich für, pro Sternzeichen, über den Daumen gerechnet ein Zwölftel der Weltbevölkerung. In einem meiner heutigen Zeitungs-Horoskope steht beispielsweise, es sei eine gute Zeit, einen Partner zu finden. All jene Abertausende, die eine bestehende Partnerschaft mit einem Angehörigen meines Sternzeichens haben, sollten sich am besten gleich auf Partnersuche begeben, denn sie werden zwangsläufig demnächst verlassen werden.

Neben den allgemein gehaltenen Horoskopen, wie man sie in Boulevard-Medien findet, gibt es freilich auch spezifische, erstellt unter Einbeziehung der genauen Geburtszeit. Was die nächste Frage aufwirft: Wieso ausgerechnet nach der Geburtszeit? Beginnt das Leben erst mit der Geburt? Oder hängt das mit der Seelenlehre der griechischen Antike zusammen? - Die Überlegung könnte sein, dass die Seele irgendwann in den Körper tritt, offenbar eben bei der Geburt, und letzten Endes überlebt sie den leiblichen Tod. Aber was, wenn es diese Seele gar nicht gibt? In ihren hebräischen Schriften verwendet das für den Werdegang unserer Kultur maßgebliche Buch, die Bibel, das Wort "nefesch", und das ist schlicht ein Synonym für "Lebewesen" oder "Leben". Die unsterbliche griechische Seele kam erst durch die Übersetzung der hebräischen Schriften ins Griechische und durch die Annäherung von jüdischer und griechischer Philosophie ins Christentum, als der hebräische Begriff "nefesch" mit "psyché" wiedergeben wurde.

Die Sache mit der Seele hat jedenfalls ihre Auswirkungen auf esoterische und okkulte Praktiken. Denn überlebt die Seele, kann sie in einem Zwischenreich gefangen sein. Dann gäbe es die Möglichkeit von Gespenstern. Und es könnte möglich sein, mit den Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. Wie das in eine Zeit und in eine Gesellschaft passt, die eher an die artenüberspringende Evolution glaubt als an eine Schöpfung?

Weil alle Wissenschaft zwei offenbar unmittelbar menschliche Bedürfnisse nicht zu befriedigen vermag: die Zukunft zu ergründen und zu erfahren, was auf den Tod folgt. Während die erste Frage durch Wahrsagerei (nicht) beantwortet wird, drehen sich um die zweite die Lehren de facto aller Glaubensgemeinschaften.

Die Basis der christlichen Glaubensgemeinschaften, die unsere mitteuropäische Kultur geprägt haben, die Bibel, erteilt okkulten Praktiken aller Art eine leidenschaftliche Absage. Im fünften Buch Mose gibt jener Gott, der sich, je nach Vokalisierung, Jehova oder Jahwe nennt, eine klare Anweisung: "Es sollte sich in dir (im Volk Israel, Anm.) nicht jemand finden, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, jemand, der sich mit Wahrsagerei beschäftigt, der Magie treibt, oder jemand, der nach Omen ausschaut, oder ein Zauberer oder einer, der andere mit einem Bannspruch bindet, oder jemand, der ein Geistermedium befragt, oder ein berufsmäßiger Vorhersager von Ereignissen oder jemand, der die Toten befragt."

Dennoch versuchen die meisten christlichen Glaubensgemeinschaften einen Spagat. Der Katechismus der Katholischen Kirche verurteilt einerseits okkulte Praktiken inklusive der Wahrsagerei, andererseits förderten die
Renaissance-Päpste Sixtus IV. und Leo X. die Astrologie.

Hexenbuch und Satanismus

Heute verkauft der im Besitz der Katholischen Kirche befindliche Weltbild-Verlag auch Bücher über Heilsteine und Rosenkreuzer sowie die "Hexenküche", deren Werbetext lautet: "Dieses magische Buch, dein persönliches Grimoire und Buch der Schatten, soll dir bei deiner Hexerei stets ein treuer Begleiter sein! Sammle darin deine geheimsten und raffiniertesten Rezepturen oder trage deine eigenen Hexenrituale ein." Der Glaubensreformator Martin Luther wiederum trat der Astrologie entgegen, konnte ihre Verbreitung im protestantischen Raum jedoch nicht verhindern.

So wird verständlich, dass gegenwärtig, in Anbetracht der Geschichte, nur jüngere und fundamental auf die Bibel gestützte Glaubensgemeinschaften den Okkultismus in allen Ausprägungen glaubhaft ablehnen können, in aller Konsequenz etwa die Adventisten und Jehovas Zeugen.

Dass okkulte Praktiken zur Religion aufsteigen können, ist ebenfalls Teil unserer Gegenwart - und ein durchaus gefährlicher: Diverse okkulte Praktiken können einen Einstieg zum Satanismus darstellen, über den die Meinungen auseinandergehen, ob er nun okkulte Praktik oder Glaubenssystem ist. Sein Erscheinungsbild ist uneinheitlich, einige seiner Gruppen ziehen Tier- und sogar Menschenopfer zumindest theoretisch in Betracht.

Dass die Hemmschwelle zum Einstieg in den Satanismus bisweilen speziell durch die Pop-Kultur herabgesetzt wird, ist eine Binsenweisheit: Wenn die menschenverachtenden Texte ultra-rechter Rockgruppen nachweislich Auswirkungen auf die Einstellung speziell von Jugendlichen haben, dann haben zwangsläufig auch die menschenverachtenden Texte satanistischer beziehungsweise mit dem Satanismus unreflektiert spielender Rockgruppen Auswirkungen. Die Berührungspunkte von Ultrarechten und Satanisten wären ohnedies eine eigene Betrachtung wert. "Brüder im Geiste" nannte sie immerhin das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel".

Die Hauptgefahr der okkulten Praktiken besteht indessen nicht primär im Abgleiten in den Satanismus. Die wesentlich größere Gefahr, wenn man nicht als gläubiger Mensch das ewige Leben aufs Spiel gesetzt sieht, besteht in der Verkennung von Tatsachen: Heiltechniken wie Reiki gaukeln unter Umständen Verbesserungen der Beschwerden vor, ersetzen in Wahrheit jedoch nicht den Arzt. Vor allem aber kann das Aufgeben der Selbstbestimmung durch Orakel- und Wahrsagetechniken regelrecht zur Sucht werden - und das auch und oft gerade bei Menschen, in deren moralischem Koordinatensystem die zur Religion erhobene Verwissenschaftlichung des Weltgefüges ein tiefes Loch der Orientierungslosigkeit hinterlassen hat.