Inzucht macht Wölfe krankheitsanfällig. Forscher bauen Wildbrücken, damit die Raubtiere wandern und sich mischen können. - © keystone
Inzucht macht Wölfe krankheitsanfällig. Forscher bauen Wildbrücken, damit die Raubtiere wandern und sich mischen können. - © keystone

Ein lang gezogenes Heulen hallt in großer Entfernung aus den weiten Wäldern im Osten Deutschlands. Kurz danach antwortet von einer anderen Stelle ein ähnlicher Ruf. Manchen Menschen läuft dabei ein Schauer über den Rücken. Naturschützer aber sind von dem Heulen begeistert. Dort rufen nämlich Wölfe, die in Mitteleuropa einst ausgerottet wurden und die nun langsam in ihre alte Heimat zurückkehren.

Einst war Isegrim nämlich hier zu Hause. Er gehörte unbestritten genau so wie Wildschwein und Rotfuchs zu Mitteleuropa. Doch der letzte "deutsche" Wolf wurde 1845 in Sachsen geschossen. Danach kamen zwar immer wieder einzelne Tiere über die Oder nach Westen, doch erst als die Wende auch dem Osten Deutschlands das Jagdverbot für Wölfe brachte, hatten die Rückkehrer eine reelle Chance. Pünktlich zum neuen Jahrtausend kamen dann auch in der sächsischen Lausitz die ersten Welpen seit mehr als 150 Jahren wieder in Deutschland zur Welt. Bis 2012 waren aus dem ersten Rudel 18 geworden, die Nachwuchs haben.

Längst leben Wolfsfamilien aber nicht nur im Osten Deutschlands. Einzelgänger sind sogar bereits in Hessen und in Dänemark aufgetaucht. Überlebt haben die grauen Raubtiere auch im Apennin Italiens. Von dort haben sie sich in die Westalpen und weiter in die Schweiz ausgebreitet, einer hat es von dort sogar bis Rheinland-Pfalz geschafft. Und da Wölfe fast aus allen Himmelsrichtungen auch Richtung Österreich wandern, scheint diese Art das Erfolgsmodell schlechthin für eine Rückkehr in die alte Heimat.

Der Nachwuchs wandert weite Strecken


Den Grund dafür fasst Felix Knauer vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien zusammen: "Junge Wölfe wandern gerne weite Strecken." Werden sie nicht geschossen, finden sich über kurz oder lang Rüden und Fähen und gründen ein Rudel.

Dies könnte in Zukunft allerdings doch wieder anders aussehen. Derzeit beobachten Wildbiologen und Naturschützer aus Europa die Entwicklung der Wölfe mit Sorge. Sie nehmen dazu das 72 Kilometer lange und bis zu 13 Kilometer breite nordamerikanischen Eiland Isle Royale im Oberen See an der Grenze zwischen den USA und Kanada unter die Lupe. Schon in einigen Jahren könnte dort das Heulen der Wölfe verstummen, wie Christine Mlot im Fachblatt "Science" befürchtet. Die Wölfe dort kämpfen nämlich mit dem gleichen Problem, das auch ihre Artgenossen in Schweden, im Osten Deutschlands und im Westen Polens haben: Da die Rudel in allen drei Regionen von wenigen Urahnen abstammen, droht eine Inzucht. Nach einigen Generationen könnte die Art wieder aussterben, wenn keine Wölfe aus anderen Gebieten ankommen und neues Erbgut zu den eng verwandten Artgenossen bringen.

Seit 60 Jahren
kein Neuzugang


Dramatisch ist die Situation vor allem auf der Isle Royale, die abgelegen im Oberen See liegt, der mit einer Oberfläche von 82.000 Quadratkilometern fast groß ist wie Österreich. Da die nächste Küste 24 Kilometer entfernt ist und sich nur in sehr strengen Wintern eine Eisdecke zwischen der Insel und dem Rest Nordamerikas bildet, konnte erst um 1948 ein Wolfspaar dort einwandern. Weil bereits um 1900 einige Elche, die gute Schwimmer sind, das Eiland erreicht hatten, lebten die Wölfe zunächst in einem Schlaraffenland: Die großen Hirsche hatten sich ohne Feinde stark vermehrt - und bei den Raubtieren stand häufig Elch auf der Speisekarte.

Für Wildbiologen wurde die Isle Royale bald zu einer Art Lehrbuch über die Zusammenhänge zwischen Raubtieren und ihrer Beute: Weil die Elche keine Feinde mehr kannten, landeten zunächst viele in den Wolfsmägen. Bis zu vier Rudel dieser grauen Raubtiere streiften später gleichzeitig über die Insel und dezimierten die Hirsche stark. Je weniger Elche aber unterwegs waren, umso häufiger knurrten die Wolfsmägen vor Hunger, weniger Welpen wurden geboren und die Rudel schrumpften. Im Laufe der Zeit stellte sich ein Auf und Ab ein. Die Zahl der Elche schwankte zwischen 540 und 2450 Tieren. Bei den Wölfen zählten die Forscher zwischen 14 und 50 Köpfe.

Während die Elche von einer Reihe verschiedener Urahnen abstammten, hatten alle Wölfe nur eine einzige Urmutter, die im Winter 1948/49 auf die Insel gekommen war. Unter so eng verwandten Tieren wirken Krankheitserreger, wie etwa ein 1980 eingeschlepptes Parvo-Virus, verheerend. Innerhalb von zwei Jahren dezimierte es die Zahl der Wölfe um 75 Prozent. Biologen wissen, dass eine Population so eng verwandter Tiere zum Aussterben verurteilt ist, wenn kein neues Blut zu ihnen kommt. Auf der Isle Royale dauerte es fast ein halbes Jahrhundert, bis 1997 ein kräftiger Wolfsrüde wieder eine feste Eisdecke fand, auf der er bis zur Insel wandern konnte. Mit einem Weibchen aus der Nachkommenschaft des ersten Wolfspaares gründete er dort ein Rudel und dominierte bald die kleine Insel.

Die Blutauffrischung aber kam vermutlich zu spät, 2012 lebten dort nur noch acht Wölfe, zum ersten Mal seit 1948 wuchs kein einziger Welpe auf. Auf der Isle Royale scheint die Inzucht die Wölfe auszulöschen, vermutet Mlot. Ähnlich könnte es nun auch den schwedischen Wölfen gehen, die schon 1965 im Süden des Landes praktisch ausgestorben waren - erst 1983 wurden dort wieder Welpen geboren. Seither hat sich ein Bestand von rund 150 Wölfen etabliert. Jedoch stammen alle Tiere von drei Rüden ab, die aus dem mehr als 1000 Kilometer entfernten Russland eingewandert waren. Da die Raubtiere dabei die Region der Rentierzüchter durchqueren müssen, die Wölfe erbarmungslos jagen, hat diesen Weg seit den 1980er Jahren offensichtlich kein Tier mehr lebend passiert. Bereits 2007 waren die schwedischen Wölfe im Durchschnitt erheblich näher als leibliche Geschwister miteinander verwandt. Auch ihnen droht also Inzucht und damit das gleiche Schicksal wie ihren Artgenossen auf der Isle Royale.