Michael Marmot: "Die Politik kann sehr viel tun, um Kinderarmut zu bekämpfen." - © EFA/Naderer
Michael Marmot: "Die Politik kann sehr viel tun, um Kinderarmut zu bekämpfen." - © EFA/Naderer

Alpbach. Ungleichheit macht krank, je weiter unten, desto kränker. Der Epidemiologie Michael Marmot erklärt im Interview, wie die soziale Position die Gesundheit bestimmt. Bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen, die zurzeit stattfinden, hielt er die Keynote.

"Wiener Zeitung":Sie sind seit mehr als vierzig Jahren in der Erforschung von sozialer Ungleichheit und Gesundheit engagiert. Man weiß unter anderem durch Ihre Forschung, dass der soziale Status über Gesundheit und Krankheit entscheidet. Was ist für Sie persönlich das Schlimmste an gesundheitlicher Ungleichheit?

Michael Marmot: Das Schlimmste ist wohl, dass das Leben von so vielen Menschen unnötigerweise zerstört wird. Wir könnten das verhindern, aber wir tun nicht genug dafür.

In der Epidemiologie versucht man zu verstehen, warum und wie sich bestimmte Krankheiten in der Bevölkerung ausbreiten. Sie haben unter anderem in den 1970er Jahren die sogenannten Whitehall Studies durchgeführt, die gezeigt haben, dass britische Verwaltungsangestellte in niedrigen Positionen eine viel niedrigere Lebenserwartung haben als die Kollegen über ihnen. Wieso?

Whitehall hat zum ersten Mal deutlich gezeigt, dass soziale Ungleichheit allein die bestimmende Größe ist. Whitehall wurde unter britischen Verwaltungsangestellten durchgeführt, eine soziale Gruppe, die insgesamt weder besonders reich noch besonders arm ist. Und dennoch konnte man feststellen, dass die innerhalb dieser Gruppe existierenden Ungleichheiten sich auf die Gesundheit der Mitglieder auswirkten. Je weiter unten in der Hierarchie, desto kürzer die Lebenserwartung und häufiger die Herz-Kreislauferkrankungen. Zwanzig Jahre später, in der Whitehall II Studie ab 1985, war es ebenso. Das ist dramatisch, denn es zeigt: Hier geht es um Ungleichheit, nicht um Armut. Wer weiter unten in der sozialen Hierarchie ist, hat weniger Kontrolle und ist weniger selbstbestimmt - das war ein Wirkungsmuster, das wir mit Whitehall zeigen konnten und dass auch für Gesellschaften insgesamt anwendbar ist.

Welchen Einfluss hatte "Whitehall" auf die Epidemiologie insgesamt?

Man hat die soziale Klasse zuvor immer aus den Studien herausgerechnet, denn man war der Ansicht, dass sie die Ergebnisse verfälscht. Man wusste zum Beispiel, dass Menschen mit niedrigem Sozialstatus häufiger an Lungenkrebs erkranken, hat aber nach den vermeintlich "reinen" Ursachen von Lungenkrebs gesucht, zum Beispiel dem Rauchen. Whitehall hat gezeigt, dass die soziale Schichtzugehörigkeit das Auftreten der Erkrankung erklärt und man sie daher nicht herausrechnen darf. Die soziale Position hat offenbar einen Effekt auf die Gesundheit von Menschen, und wir müssen verstehen, warum. Innerhalb der Epidemiologie wird dies allerdings immer noch als Ärgernis gesehen.