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Die Lichtschatten des Lebens

Von Eva Stanzl

Wissen

Die Autobiografie "Der Schattensammler" zeigt dunkle Seiten eines Weltbürgers.


Wien. Heimat schafft Beziehung, da ihre Mitglieder einander von Grund auf akzeptieren. "Diese Beziehung wurde total zerstört in der Nazizeit. Eine meiner Schattenseiten ist, dass ich immer Anerkennung erfahren will. Ich will den Beweis, dass ich angenommen werde", sagte Carl Djerassi einmal im Interview mit der "Wiener Zeitung". Jüngst hat der Chemiker und Autor mit "Der Schattensammler" seine dritte und wie er betont "allerletzte Autobiografie" vorgestellt. Am Dienstag feiert die "Mutter der Pille", so der Titel einer früheren Autobiografie, den 90. Geburtstag.

Carl Djerassi wurde am 29. Oktober 1923 als Sohn eines Ärzte-Ehepaars geboren, die Mutter Alice Friedmann war eine aschkenasische Jüdin aus Wien, der Vater Samuel Djerassi ein sephardischer Jude aus Bulgarien. Seine frühe Kindheit verbrachte Carl in Bulgarien. Nach der Scheidung der Eltern zog er mit seiner Mutter nach Wien. 1939 emigrierte er 16-jährig in die USA, 1945 promovierte er an der University of Wisconsin in organischer Chemie.

Weltweiten Ruhm brachten Djerassi zwei weitreichende Entdeckungen, die Medizin und Gesellschaft veränderten. Die Synthetisierung des Hormons Cortison ermöglichte dessen Massenproduktion und medikamentösen Einsatz. 1951 gelang ihm die Synthetisierung des Schwangerschaftshormons Gestagen, woraus er zusammen mit den Pharmakologen Gregory Pincus und John Rock die Antibabypille entwickelte. Die Bezeichnung lehnt Djerassi ab. Er betont, dass er die Verhütungspille, für deren Erfindung er auch viel Missachtung einstecken musste und die er deswegen als "bittersüße Pille" bezeichnet, nicht als gegen Babys gerichtet versteht, sondern als Beitrag zur Emanzipation der Frau. Ab 1959 lehrte er an der Stanford University in Kalifornien, an der er 2002 emeritierte.

Stempel der Kindheit

Nach Wien kehrte Djerassi erstmals in den 1950er Jahren für einen biochemischen Kongress zurück. Heute hat er neben London und San Francisco eine Wohnung in Wien und die österreichisch-amerikanische Doppelstaatsbürgerschaft. Djerassi wurden 30 Ehrendoktorate verliehen, der Nobelpreis jedoch bisher nicht.

"Als Chemiker bin ich Amerikaner. Kulturell ist das eine andere Sache", sagte Djerassi einmal. Seine Entwicklung als Schriftsteller ab 1985 versteht er als "Stempel, den meine Kindheit in Wien in mir hinterlassen hat". Gedichten und Kurzgeschichten folgte die von ihm erfundene Romangattung "Science in Fiction" mit "Cantors Dilemma", "Das Bourbaki Gambit" oder "NO". Seit 1997 schreibt Djerassi Theaterstücke, die in Österreich gespielt werden, es jedoch noch nicht auf die große Wiener Bühne geschafft haben.

"In meinen Roman ,Ego‘ will ein Autor den Beweis, dass andere auch eine so hohe Meinung von ihm haben wie er von sich selbst. Er denkt, das könne er nur herausfinden, wenn er seine eigenen Nachrufe liest. Er inszeniert seinen Tod und lebt weiter unter einem Pseudonym, um zu warten, was die Leute über ihn schreiben", so Djerassi. Den "Schattensammler" beginnt er mit fiktiven Berichten über den eigenen Freitod. Was wie die Idee eines kühnen Geistes verstanden werden könnte, der die Groteske nicht scheut, entpuppt sich als Bemühung, mit dem eigenen Schicksal fertig zu werden. Solange ihm das Alter ein selbständiges Leben erlaube, zöge er Selbstmord nicht in Erwägung, so Djerassi. Seine Befassung damit gehe vielmehr auf den Suizid seiner Tochter Pamela zurück, "die größte Tragödie meines Lebens". "Ich hielt es für angebracht, mich mit der tieferen Bedeutung des Themas Freitod im Notfall auf der einzigen Ebene auseinanderzusetzen, auf der ich mich imstande fühle, so persönliche Themen offen zu erörtern, nämlich in meinen Büchern." Seine dritte Autobiografie begründet er einleitend mit der Notwendigkeit zur "Autopsychoanalyse" und betont: "Ich möchte dem tapferen Leser danken, die Lektüre dieser egozentrischen Selbstbeschreibung von Carl Djerassi fortzusetzen." Als rein egozentrisch erweist sich der 475 Seiten dicke Band denn dann doch nicht, sondern als Bilanz eines Mannes, der so schonungslos wie augenzwinkernd sein langes Leben im Detail reflektiert. Oder wie Djerassi es formuliert: "Im Alter kann man ehrlich sein."