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Massenspeicher im Kopf

Von Christina Mondolfo

Wissen
Auch die Venusfliegenfalle verfügt über ein Gedächtnis und weiß, wann es sich lohnt zuzuschnappen.
© Foto: David Aubrey/CORBIS

Alles, woran wir uns erinnern, ist in unserem Gedächtnis abgespeichert. Das funktioniert zwar nicht immer so gut, wie wir das gerne hätten, dennoch ist dieser Massenspeicher bis heute ein faszinierendes Studienobjekt.


"Wo habe ich das nur wieder hingelegt!" oder "Den kenne ich, aber wie heißt der denn noch gleich?" - manchmal lässt uns unser Gedächtnis einfach im Stich. Erinnerungen sind nicht abrufbar, aus welchen Gründen auch immer. Haben wir sie vielleicht an der falschen Stelle abgelegt? Der deutsche Rapper Sido jedenfalls erklärt in seinem Song "Bilder im Kopf", dass er seine Erinnerungen in einem "schwarzen Album mit 'nem silbernen Knopf" in seinem Kopf aufbewahrt – eine hübsche Beschreibung für den Begriff "Gedächtnis", doch ganz so einfach ist es natürlich nicht.

Schließlich sind im Gehirn mehrere Areale dafür zuständig, Informationen aufzunehmen, zu behalten und zu ordnen sowie sie wieder abzurufen. Gedächtnis oder Mnestik ist im Grunde die Fähigkeit des Nervensystems von Lebewesen, ebendiese Vorgänge, die auf bewussten oder unbewussten Lernprozessen fußen, durchzuführen. Je nach Dauer der Informationsspeicherung wird zwischen dem sensorischen Gedächtnis, dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis unterschieden, wobei Letzteres wiederum in einen prozeduralen und eine deklarativen Bereich unterteilt wird.

Das deklarative Gedächtnis speichert Tatsachen und Ereignisse aus dem persönlichen Erleben sowie das sogenannte Weltwissen, also alles, was man sich durch jegliche Art von Bildung aneignet, aber auch berufliches Wissen. Das prozedurale Gedächtnis dagegen speichert Fertigkeiten vor allem motorischer Natur, also solche, die automatisch eingesetzt werden wie Schwimmen oder Autofahren. Damit eine Information aber in diesen Gedächtnisbereich gelangt, muss sie erst im sensorischen oder Ultrakurzzeitgedächtnis ankommen. Hier bleibt eine Information lediglich für maximal wenige Sekunden gespeichert, wenn ihr keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt wird, zerfällt sie quasi wieder und wird gelöscht. Ist diese Information jedoch von Bedeutung, wandert sie ins Kurzzeitgedächtnis. Dort steht sie abrufbar für etwa eine Minute zur Verfügung, in dieser Zeit kann sie be- und weiterverarbeitet werden, womit sie dann im Langzeitgedächtnis landet.

Dieses Dauerspeichersystem im Gehirn kann Informationen für einige Minuten, Jahre oder das ganze Leben aufbewahren. Doch wie kommt es dann, dass man im Lauf der Jahre so einiges vergisst? Wissenschafter vermuten, dass das Vergessen kein Problem mangelnder Kapazität ist, sondern ein Schutz vor zu viel Wissen oder aber eine Form von Prioritätensetzung: Stellt sich eine Information als wichtiger oder relevanter als eine bereits gespeicherte heraus, wird die alte gleichsam überschrieben. Anders sieht die Sache bei Menschen aus, die das hyperthymestische Syndrom aufweisen: Sie können nichts vergessen, jeder Eindruck, jede Information und jede Emotion werden gespeichert – fast alles ist detailliert abrufbar. Segen oder Fluch? Die Amerikanerin Jill Price, der erste Mensch, bei dem erstmals Hyperthymesie im Jahr 2000 durch den US-Hirnforscher James McGaugh diagnostiziert wurde, meinte einmal, dass sie bestimmte Dinge gerne vergessen würde, so wie jeder "normale" Mensch, und bezeichnet sich selbst als Gefangene ihrer Erinnerungen. Sie hat ihr Leben in ihrer Autobiografie "The Woman Who Can't Forget" sehr plastisch beschrieben, tröstlich war die Aufarbeitung ihres ungewöhnlichen Lebens in Buchform für sie jedoch nicht.

Während Hyperthymestiker also schwer an der Last ihrer Erinnerungen tragen, haben jene, die unter Amnesie, Alzheimer oder Demenz leiden, das gegenteilige Problem: Ihnen fehlen Tage, Jahre oder sogar Jahrzehnte der Erinnerungen. Was bei Amnesie mit Gehirn und Gedächtnis nicht funktioniert, haben Untersuchungen an einem ganz bestimmten Patienten zutage gebracht: Henry Molaison litt unter schweren epileptischen Anfällen, die man durch die Entfernung von Teilen beider Schläfenlappen lindern wollte. Allerdings verlor Molaison dadurch die Fähigkeit, neue Eindrücke zu speichern: So wusste er etwa kurz nach dem Essen nicht, dass er gegessen geschweige denn, was er verzehrt hatte. Daraus zu schließen, dass das Gedächtnis oder zumindest Teile davon in ganz bestimmten Hirnarealen lokalisiert sind, ist dennoch nicht korrekt – sich zu erinnern ist Netzwerkarbeit. Das hat schon Ende der 1940er Jahre der kanadische Psychologe Donald Hebb mit seiner Aussage, dass das Grundelement von Gedächtnisbildung die assoziative Verknüpfung von Neuronenverbänden ist, postuliert. Auch Eric Kandel, als Erich Kandel in Wien geboren und 1939 vor den Nazis in die USA geflüchtet, leistete Bahnbrechendes in diesem Bereich der Hirnforschung, wofür er im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Wird eine Erinnerung abgerufen, entsteht im Gehirn ein neuronales Aktivitätsmuster, das als Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis generiert wurde. Warum wir jedoch manchmal eine Erinnerung nicht abrufen können, ist bis heute nicht befriedigend erforscht. Dafür gab es jüngst einen Erfolg in Sachen falsche Erinnerungen. Wer dabei an den Film "Total Recall" denkt, liegt richtig: Japanische Forscher pflanzten Mäusen mittels Optogenetik schlechte Erinnerungen an eine bestimmte Umgebung ein, obwohl die Tiere dort nie schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Bei diesem vom Österreicher Gero Miesenböck entwickelten Verfahren werden Tiere genetisch so verändert, dass bestimmte Hirnzellen durch Licht ein- und ausgeschaltet werden können.

Gedächtnis funktioniert allerdings nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen, nämlich in den Genen. Denn obwohl sämtliche Zellen im Organismus dieselbe Erbinformation (DNA) enthalten, nehmen sie doch unterschiedliche Identitäten an. So sehen Hautzellen anders aus als Gehirnzellen und haben natürlich auch unterschiedliche Aufgaben. Dass sich Zellen ab einem bestimmten Zeitpunkt unterschiedlich entwickeln, verdanken sie Protein-Strukturen außerhalb der Gene: Sie wirken wie ein Schalter, der die Teile der Erbinformation stilllegt, die nicht gelesen werden sollen, um eben einen besonderen Zelltyp ausbilden zu können. Die Epigenetik erforscht also das Gedächtnis der Zellen – und steht dabei noch ziemlich am Anfang...

Wenn man Gedächtnis als Fähigkeit eines Nervensystems zur Informationsaufnahme und Speicherung betrachtet, dann sollten etwa Pflanzen dazu nicht in der Lage sein, denn sie besitzen kein Nervensystem. Der israelische Biologe Daniel Chamovitz hat jedoch eindrucksvoll den Gegenbeweis angetreten. Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Riechen oder Hören sind also nicht nur Menschen und Tieren vorbehalten, wenn es auch bei Pflanzen über andere Kanäle stattfindet. Faszinierend sind jedoch seine Untersuchungen zum Gedächtnis im Bereich der Flora, die er anhand des Kurzzeitgedächtnisses der Dionaea, der Venusfliegenfalle, einer fleischfressenden Pflanze, belegt hat: Sie klappt ihre Blätter nur dann zusammen, wenn ein Insekt lohnender Größe über diese krabbelt. Große schwarze Borsten auf den Blättern geben ihr diese Information – berührt ein Insekt eine Borste und vergeht zu viel Zeit bis zur Berührung einer zweiten Borste, schließt die Venusfliegenfalle ihre Blätter nicht, sie hat die erste Berührung  und damit die gespeicherte Information vergessen. Und das kleine Insekt überlebt... Ausschlaggebend für diese Form von Gedächtnis ist die elektrische Ladung der Blätter sowie die Öffnung von Kalzium-Kanälen, ein Prozess, der auch zwischen menschlichen Neuronen abläuft. Mit diesem Wissen betrachtet man das nächste Mal eine Pflanze bestimmt mit anderen Augen...

Einen wissenschaftlich umstrittenen Zugang zum Gedächtnis der Natur hat Rupert Sheldrake. Der britische Biologe formulierte ein sogenanntes "morphic field", ein morphisches Feld, als "formbildende Verursachung" für die Entwicklung von Formen und Strukturen. Darunter versteht er eine Art unterbewussten Informationskanal für sämtliche Wesen einer Spezies. Auch er ging dabei ursprünglich von Pflanzen aus, legte seine These aber bald auf Tiere und Menschen und sogar ganze menschliche Gesellschaften um. Dieses universelle Feld ist seiner Ansicht nach die Ursache dafür, dass eine Form, die bereits an einem Ort existiert, auch an einem anderen beliebigen Ort entstehen kann und dass Wissen unter Lebewesen mit ebendiesem Prinzip weitergegeben wird. Als Beweis nahm Sheldrake die Arbeit von William McDougall, der in den 1920er Jahren herausgefunden hatte, dass Ratten schneller durch ein Labyrinth fanden, wenn es andere vor ihnen bereits gelernt hatten.

Die Experimente und Hypothesen des britischen Biologen werden heute von vielen Wissenschaftern als pseudowissenschaftlich abgetan, manche fordern jedoch eine genauere Überprüfung, da sie darin eine Brücke zwischen der Biologie und der Physik sehen. Eine umfassende Anerkennung Sheldrakes scheint jedoch in naher Zukunft nicht in Sicht.

Artikel erschienen am 25. Oktober 2013 In: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal"