Wien. (est) Wer es nicht so recht glauben will, versuche ein Experiment, schließe in der U-Bahn die Augen und höre auf die Geräusche im Waggon. Wahrscheinlich ist, dass er Stimmen oder Gespräche hört, die ihm mit offenen Augen nicht aufgefallen wären. Das Experiment verschafft Sehenden zwar keinen Einblick in das Leben von Blinden, gibt jedoch wohl einen Eindruck davon, wie es ist, seine Sinne anders als gewohnt zu benutzen.

Wissenschafter waren bisher davon ausgegangen, dass Blinde zwar besser hören, sich ihr Gehör aber nur umso feiner entwickelt, wenn sie blind geboren sind. Die Eichung der Sinne sei nur in einer kritischen Phase der Kindheit möglich, wenn das Gehirn noch extrem plastisch ist. Ein im Fachjournal "Neuron" publizierter Versuch mit Mäusen zeigt aber nun, dass sich diese Sensibilität auch bei Erwachsenen messbar steigern lässt. Die Mäuse mussten allerdings eine Woche im Dauerdunkel verbringen. Ob Menschen so etwas freiwillig tun würden, ist fraglich.

Zusammenarbeit der Sinne


Studien zeigen, dass früh Erblindete schnelle Tonfolgen besser trennen und feine Unterschiede in der Tonhöhe besser hören können als die meisten Sehenden. "Unsere Sinnessysteme arbeiten nicht isoliert, sondern sie interagieren - vor allem beim Verlust eines Sinnes", erklärt Studienleiterin Hey-Kyoung Lee von der Johns Hopkins University in Baltimore. Je stärker ein Sinn gefordert ist, desto besser entwickelt er sich, das Gehirn legt entsprechend mehr Verschaltungen an. Die Forscher wollten nun wissen, ob dies auch später im Leben möglich ist. Sie testeten zunächst, wie sensibel erwachsene Mäuse mit normaler Sehfähigkeit Geräusche hören können. Dazu leiteten sie die elektrischen Signale aus dem Hörzentrum der Tiere ab und prüften, ob und wie stark die Neuronen auf leise Töne und schnelle Tonfolgen reagierten. Danach setzten sie einige Mäuse eine Woche lang in ein verdunkeltes Gehege. Ihre Augen erhielten keinerlei Sehinformationen mehr, sie waren faktisch blind.

Als die Mäuse aus dem Dauerdunkel wieder ans Licht kamen, war ihre Sehleistung unverändert, doch ihr Gehör hatte sich verbessert: Die Neuronen im Hörzentrum feuerten schneller und stärker als zuvor und reagierten selbst auf Töne, die die Tiere zuvor nicht hatten hören können. Selbst nach so kurzer Zeit hatte sich das Gehirn der Mäuse flexibel an die veränderten Verhältnisse angepasst. Es waren sogar neue Verknüpfungen zwischen den Hirnzellen im Hörzentrum und dem Thalamus entstanden. Eine künstliche Kurzzeit-Blindheit könnte beim Menschen vielleicht eine Chance eröffnen, Hörprobleme zu lindern, so Lee.