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Im Reich des Ethanol

Von Christian Hoffmann

Wissen

Alkohol, im chemischen Sinne: Ethanol, ist eine der ältesten und gefährlichsten Drogen, die die Menschheit kennt. Umso wichtiger wäre es, sagen Fachleute, den Umgang damit zu lernen.


Ethanol, Geist aus der Flasche
© corbis

Ein ganz normaler Freitagabend in einem kleinen Wirtshaus. Es gibt eine Theke und zwei große Gasträume mit gedeckten Tischen. Seit dem frühen Nachmittag hat das Lokal geöffnet. "Da stehen schon die Ersten vor der Türe", sagt Anton F., der Wirt. Den ganzen Abend wird Alkohol ausgeschenkt, Wein, Bier und Hochprozentiges. Die Stimmung wird gelöst, da und dort vielleicht ein bisschen gereizt, aber im Großen und Ganzen bleibt alles im Rahmen. Viele sind zum Essen gekommen und bestellen dazu ihre Getränke.

Auch bei der speziellen Gruppe, die sich Abend für Abend an der Theke versammelt und mehr wegen des Trinkens da ist als wegen des Essens, herrscht zu Beginn des Abends gute Laune. Man macht Witze und lacht vielleicht ein bisschen übertrieben, doch alles in allem ist es ein entspannender Abend, Auftakt zum Wochenende.
Gegen 22 Uhr brechen die meisten Gäste auf, die zum Essen gekommen sind. "Da ist das Geschäft gelaufen", sagt der Wirt. Dann beginnt für Anton F. und seine Kellnerinnen oder Kellner der anstrengendere Teil des Abends. Aus jahrelanger Erfahrung kennen sie die Wirkung des Alkohols auf die spezielle Kundschaft, die weniger wegen des Essen gekommen ist, sondern eher, weil man sich dort, an der Theke, wie in einem Wohnzimmer fühlt. Dann sind  "immer dieselben Stories" zu hören, die schon seit Jahren erzählt werden. Zunächst eher die großartigen. "G’scheit sind sie alle", sagt Anton F., "und müssen ganz dringend ihre Weisheiten zum Besten geben. Es gibt kaum nüchterne Menschen, die Ihnen dauernd erzählen, wie toll sie sind."

Später dann schlägt die Stimmung um, wie der Wirt weiß. "Dann fangen sie an, sich auszuweinen", ein Stadium, das für das Personal sehr anstrengend ist.  "Manchmal sitzen in Tränen aufgelöste Frauen an der Bar, und keiner hat mehr die Nerven, sie zu trösten."
Wobei diese Erfahrungen noch lange nicht die wirklich dramatischen sind. Anton F. kennt es auch wilder, vor allem im Fasching, die spezielle Art von "gemütlichem Beisammensein", bei der schon Schnaps auf der Straße getrunken wird und die häufig in wilden Schlägereien enden. "Immer ist der Alkohol daran schuld", sagt der Wirt.

Euphorie und Depression

Was umgangssprachlich Alkohol genannt wird, ist im chemischen Sinn Ethanol, eine Untergruppe der Alkohole. Es entsteht auch auf natürlichem Weg und gehört zu den ältesten Drogen der Menschheit. Bereits in Schriftrollen des Alten Reichs in Ägypten sowie in Keilschrifttafeln aus Mesopotamien, also vor mehr als 4000 Jahren, finden sich Anleitungen zur Produktion alkoholischer Getränke, das Wissen um den Umgang mit Wildhefe und  mit natürlichen Gärungsprozessen ist wesentlich älter. Auch Griechen und Römer setzten sich bereits mit dem Alkohol auseinander und widmeten ihm eigene Götter, Dionysos beziehungsweise Bacchus, die sich durch einen zwiespältigen Charakter auszeichneten: Auf der einen Seite verkörperten sie Freude und Lebenslust, auf der anderen Seite Wildheit und Gewalt, die auch die Ursache blutiger Tragödien sind. Etwa in dem Stück "Die Bacchantinnen" von Euripides, in dem eine Mutter im Rausch ihren Sohn ermordet.

Alkohol ist eben nicht nur eine der ältesten Drogen der Menschheit, sondern auch eine "der gefürchtetsten", wie Michael Musalek sagt, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Primar des Anton-Proksch-Instituts, dessen Zentrale in Kalksburg liegt, die ehemalige "Trinkerheilstätte",  die heute als "Sonderkrankenhaus für alle Arten der Abhängigkeit" geführt wird. Auf dem Weg zu seinem Büro durchquert man den Aufnahmebereich des Krankenhauses in der Gräfin Zichy Gasse in Wien Liesing, eine Wartezone mit Tischen, auf denen demonstrativ Mineralwasserflaschen stehen, vorbei an den Schaltern, an denen sich Patienten an- und abmelden, oder an denen Medikamente ausgegeben werden. Ehe man das Direktionsbüro betritt, bekommt man zumindest eine vage Ahnung von den Schattenseiten der Droge. Die Menschen, die hier sitzen und warten, verbreiten keineswegs eine vergnügte, ausgelassene Stimmung.
"Das Problem", sagt Michael Musalek, "ist die Fähigkeit, mit der Droge umzugehen." Heutzutage werde ein großer Aufwand betrieben, um Menschen zum Beispiel in die Lage zu versetzen, ein Auto zu lenken. Der Umgang mit Alkohol wird hingegen immer noch informell erlernt und es gebe zu wenig zuverlässige Informationen, und das obwohl die Menschen in Österreich immer früher mit der Droge in Kontakt kommen, mittlerweile bereits zwischen dem elften und dem dreizehnten Lebensjahr.

Die Wirkungen von Ethanol sind vielfältig. Auf der psychischen Ebene gibt es zunächst eine angenehme Wirkung, enthemmend, angstlösend, euphorisierend, anästhetisierend. "Bei höherer Dosierung", schränkt Michael Musalek sofort ein, "ergeben sich dann aber Depression und Müdigkeit." Eine Beobachtung, die Gastwirt Anton F. Abend für Abend bestätigt sieht. Dabei entsteht ein Teufelskreis, ergänzt der Arzt. Wenn die angenehmen Kurzzeiteffekte in Depression umschlagen, dann wird diese wieder mit Alkohol bekämpft.

Auf der körperlichen Ebene "wirkt Alkohol durchaus schädigend", fährt der Primar fort. "Die Mär, dass Alkohol gesund macht, ist eine Mär, die allerdings immer wieder verbreitet wird." Auf der einen Seite würden Studien veröffentlicht, denen zufolge Männer, die regelmäßig Alkohol trinken, gesünder wären als Abstinenzler. Allen diesen Studien liegt allerdings immer derselbe systematische Fehler zugrunde, weil sie in Ländern gemacht werden, in denen Alkohol einen hohen kulturellen Stellenwert hat und daher die meisten gesunden Männer Alkohol konsumieren. Außerdem halte sich hartnäckig das Gerücht von den "kardioprotektiven Wirkungen" vor allem des Rotweins, also seiner gegen Herzkrankheiten vorbeugenden Wirkung. Die einschlägigen Stoffe seien allerdings so nieder dosiert, dass man große Mengen zu sich nehmen und sich damit allen schädlichen Nebenwirkungen des Alkohol aussetzen müsste.

Lebenselixier?

"Nein, Alkohol ist nie gesund", sagt Michael Musalek bestimmt. "Er muss aber auch nicht krank machen, so lange man bestimmte Spielregeln einhält." Dabei geht es vor allem um die Dosierung. Ein Glas Wein pro Tag oder zwei kleine Gläser Bier (siehe Kasten) gelten als unbedenklich, sofern man pro Woche an mindestens zwei Tagen gar keinen Alkohol zu sich nimmt. Ab einem Konsum von 420 Gramm Ethanol pro Woche, was etwa einer Bouteille Wein pro Tag entspricht, sind gesundheitliche Schäden unvermeidlich. (Der Umkehrschluss, den man zu Zeiten von Ludwig Prokopp, dem legendären Sportmediziner und Autor von "Lebenselixier Wein", gezogen hat, dass eine Flasche Wein pro Tag gesund wäre, ist natürlich nicht haltbar.)

Über die schädlichen Wirkungen eines höher dosierten Konsums bestehen medizinisch keine Zweifel. Und die treten ein, noch lange bevor das Stadium der Alkoholkrankheit im engeren Sinn, also der Sucht, erreicht ist. (Über diesen Teil des Problems wissen die Gäste, die sich an der Theke des Anton F. versammeln, meistens erst sehr spät Bescheid, viel zu spät.) "Alkohol schädigt alle Systeme des menschlichen Körpers", so Musalek. "Leber, Bauchspeicheldrüse, Magen-Darm-Trakt, Herz-Kreislaufsystem, Haut, Nerven, Knochen." Zu den Folgewirkungen eines Alkoholkonsums jenseits der Grenze, die als harmlos gesehen wird, gehören Gastritis,  Entzündungen der Leber und Bauchspeicheldrüse, manche Formen von Diabetes sowie ein erhöhtes Risiko, an bestimmten Arten von Krebs zu erkranken (Rachen, Kehlkopf, Speiseröhre, Magen, Leber, Brust), oft auch in Zusammenhang mit alkoholbedingtem Übergewicht. Daran kann kein Zweifel bestehen.

Diese problematischen Konsumgewohnheiten, die noch lange nicht mit Suchtverhalten gleichzusetzen sind,  sind weit verbreitet. Ungefähr zwanzig bis dreißig Prozent der österreichischen Bevölkerung pflegen einen riskanten Umgang mit der Droge. Ungefähr fünf Prozent sind von der Alkoholkrankheit im engeren Sinne betroffen, so Michael Musalek, dem "Abhängigkeitssyndrom", wie der Fachterminus lautet. Dabei sind wissenschaftlich immer noch die Klassifizierungen im Umlauf, die der Biologe Elvin Morton Jellinek 1951 entwickelte: Der Alpha-Typ, der Erleichterungstrinker, der Alkohol benützt, um Spannungen zu lösen. Der Beta-Typ, der bei sozialen Anlässen große Mengen trinkt, aber noch nicht körperlich von der Droge abhängig ist. Abhängig im engeren Sinne sind der Gamma-Typ, der hin- und hergerissen ist zwischen abstinenten Phasen und völligem Kontrollverlust, der Delta-Typ, der Spiegeltrinker, der bestrebt ist, den Alkoholspiegel im Blut Tag (und Nacht) auf gleichem Niveau zu halten, sowie der Epsilon-Typ, früher auch Quartalstrinker genannt, der in  Intervallen völlig die Kontrolle über den Konsum der Droge verliert.

Viele Alkoholkranke leben drei bis acht Jahre mit den verheerenden Folgen der Krankheit, ehe sie zur Behandlung kommen, zum Beispiel ins Sonderkrankenhaus in Kalksburg.  Und obwohl Michael Musalek tagtäglich mit ihren Geschichten konfrontiert ist, lebt er selbst keineswegs abstinent. "Ich liebe Rotwein", sagt er, "lege aber Wert auf Qualität und auf die Einhaltung der Spielregeln."

"Bewusst und gut"

Auf diesem Gebiet gibt es eine Menge erfreulicher Entwicklungen, wie Michael Musalek betont. Zum Beispiel in den österreichischen Weinbauschulen, an denen man sich schon seit längerem auch im Unterricht mit den Gefahren des falschen Alkoholkonsums auseinandersetzt. Eine Information, die Reinhard Eder bestätigt, Direktor der Höheren Bundeslehranstalt für Wein- und Obstbau in Klosterneuburg, der "ältesten Weinbauschule der Welt", wie er stolz hinzufügt. Gegründet vom Stift im Jahr 1860, als der Mehltau einen großen Teil der Ernte vernichtete, wurde sie 1870 vom Staat übernommen und ausgebaut. Töchterinstitute entstanden in vielen Ländern der Monarchie, darunter in San Michele, Budafog, Valdice oder Marburg. Man hat also eine große Tradition im Umgang mit Wein und Alkohol im weiteren Sinne.

Reinhard Eder, soeben von einer Dienstreise zur Fachtagung der Oenologen, also der Weinforscher, in Paris zurückgekehrt, bestätigt, dass man sich an seiner Schule bewusst mit den Risiken befasst, die der  Umgang mit Alkohol mit sich bringt. Ein großer Teil seiner Schülerinnen und Schüler (alles in allem 200) sind an dem Institut, weil sie eines Tages zu Hause einen Betrieb übernehmen werden. Die gesundheitlichen Gefahren im Umgang mit alkoholischen Getränken sind ein Thema im Unterricht. Außerdem gibt es an der Schule seit ein paar Jahren Alkomaten und regelmäßige Kontrollen. "Das ist ganz anders als zu meiner Zeit", sagte der Direktor, der seinerzeit selbst an der Höheren Bundeslehranstalt in Klosterneuburg maturiert hat. "Damals waren die Trunkenbolde noch Helden der Klasse." Ganz ähnlich sieht es einer der Schüler des Abschlussjahrgangs bei einem Gespräch im Hof der Schule. "Wir haben hier sicher weniger Probleme mit Alkohol als an anderen Schulen", sagt er mit dem gewissen Stolz, der den Klosterneuburgern eigen zu sein scheint.

Alles in allem hat sich der Umgang mit Wein (und Edelbränden, die ebenfalls an der Schule hergestellt werden) verändert, sagt Reinhard Eder und stellt eine Rechnung an. Vor dreißig bis vierzig Jahren habe ein Weinbauer auf einer Anbaufläche von zehn Hektar ungefähr 200.000 Flaschen im Jahr produziert und grob geschätzt zu einem Preis von einem Euro verkaufen können. Heute wären es auf derselben Fläche vielleicht noch 50.000 Flaschen, die um vier oder fünf Euro verkauft würden und ungefähr denselben Umsatz ergeben. Das setzt höhere Qualität in der Arbeit im Weinberg und einen anderen Umgang mit dem Endprodukt voraus. Die Branche wächst nicht mehr und die Linie der Zukunft, so der Direktor, könne nur heißen: "bewusst und gut". Deswegen zielt sein Zukunftsplan für die Schule auch darauf, Küche und Speisen ins Haus zu bringen und sich mehr der Verbindung von Wein und gutem Essen zu befassen.
Einen ähnlichen Gedanken formuliert auch der Wirt Anton F., der sein Lokal in den neunziger Jahren übernommen hat.  Damals hatte es noch mehr Stehpulte und mehr Kunden gegeben, die nur auf den Konsum von Hochprozentigem aus waren. Seit er auf gedeckte Tische und ein solide Küche Wert legt, sei die Fraktion an der Theke, die dort am Rande des Abgrunds balanciert, kleiner geworden. Auch die Veränderungen des Gesetzes, wonach sich strafbar macht, wer mit einem Alkoholgehalt von mehr als 0,5 Promille im Blut  Auto fährt, habe viel am Verhalten der Kundschaft geändert.

Es gibt also positive Entwicklungen im Umgang mit Alkohol. Was allerdings den Abgrund nicht weniger gefährlich macht, an dessen Rand die Truppe an der Theke im Lokal von Anton F. Abend für Abend balanciert.

Anton-Proksch-Institut:
www.api.or.at
Verein Alkohol ohne Schatten:
www.alkoholohneschatten.at
Höhere Bundeslehranstalt und Bundesamt für Wein- und Obstbau in Klosterneuburg:
www.weinobstklosterneuburg.at