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Der Werkzeugkasten der Pharmaindustrie

Von Eva Stanzl

Wissen

Vollautomatische "Kindermädchen" betreuen Zellkulturen rund um die Uhr. Jeder Wirkstoff wird einzeln getestet.


Wien. "Zweifel an der Wirksamkeit von Grippemedikamenten"; "Wirkstofftests unter fragwürdigen Bedingungen": Schlagzeilen über die Pharmabranche wecken oft negative Assoziationen oder beziehen sich darauf, dass einige Konzerne mit dem hohen Gut der Gesundheit viel Geld verdienen. Selten wird über die Forschung berichtet, die dahintersteht. Etwas anders als die Homöopathie zeichnet sie sich durch lange Zeitspannen aus. Zehn bis 15 Jahre ziehen ins Land, bevor ein neues Medikament in die Apotheken kommt. Was wird in dieser Zeit gemacht?

"Krankheiten entstehen, wenn Zellen außer Kontrolle geraten", leitete Johannes Knop, Forschungsdirektor von Amgen Deutschland, seinen Vortrag ein. Bei einem Presseseminar des Biotechnologie-Konzerns gab er jüngst Einblick in seine Arbeit: "Wir versuchen, herauszufinden, welcher Faktor für ungehemmte Zellteilung verantwortlich ist - im Fall von Krebs wäre das etwa ein Rezeptorprotein für zügelloses Wachstum. Danach geht es darum, jenen Wirkstoff zu finden, der die Reaktion der Krebszelle auf diesen Wachstumsfaktor unterbindet."

Zwei Wirkstoffklassen enthält der pharmazeutische Werkzeugkasten. Biologika bestehen aus den großen, komplexen Proteinmolekülen lebender Zellen. Sie sind von natürlichen Eiweißen abgeleitet und können hocheffektiv sein. Wegen ihrer Größe wirken sie jedoch an der Zelloberfläche und müssen als Spritze verabreicht werden. Die kleineren, synthetischen Moleküle der chemischen Verbindungen dringen ins Zellinnere ein, lassen sich leichter in beständig guter Qualität herstellen und können in Tablettenform eingenommen werden. Welche Wirkstoffklasse geeignet ist, hängt von der medizinischen Indikation ab.

Als Testgrundlage simulieren die Pharma-Forscher die Erkrankung, indem sie Zellen gentechnisch verändern. Da jeder Wirkstoff einzeln erprobt werden muss, werden tausende "Krankheitszellen" in Labors gezüchtet. "Zellen sind wie kleine Kinder, sie wollen permanent gefüttert werden", erläuterte Knop. Rund um die Uhr werden sie mit Nährlösung versorgt und dabei in immer größere Gefäße übersiedelt. Amgen, die mit 20.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 19 Milliarden US-Dollar weltgrößte Biotech-Firma, setzt Zellkultur-Roboter, die sich wie vollautomatische "Kindermädchen" um heranwachsende Zellkulturen kümmern.

Danach werden die Substanzen auf Tauglichkeit geprüft. Riesige Wirkstoff-Bibliotheken mit Millionen von Verbindungen, die sich als Arzneistoffkandidaten eigenen könnten, dienen als Reservoir. Es folgt ein Prozess, der komplex wird durch die schiere Zahl. Pipettierautomaten verarbeiten 384 unterschiedliche Substanzen gleichzeitig. Roboterstraßen nehmen zehntausende Messungen täglich vor. Trotzdem dauert eine Messreihe mehrere Monate. Proben werden mit Strichcodes versehen und in Datenbanken eingespeist. Forscher werten gigantische Mengen an Messdaten aus. Mögliche Wirkstoffkandidaten nennen sie "Hits".

"Am Ende bleiben ein paar Dutzend Substanzen übrig, die das gewünschte Aktivitätsprofil aufweisen, um als Ausgangspunkt der eigentlichen Arzneistoffentwicklung zu dienen", erklärte Knop. In zunehmend komplexen Krankheitsmodellen werden die chemischen Strukturen der Substanzen so lange verbessert, bis ein Stoff identifiziert ist, dessen Verhältnis von Wirksamkeit und Verträglichkeit klinische Tests erlaubt.

Die Kosten für die Entwicklung eines Medikaments liegen bei ein bis vier Milliarden Dollar. Blockbuster-Arzneien bringen Umsätze von einer Milliarde Dollar im Jahr. Etwa konnte Amgen mit einem Mittel gegen Anämie bei Fehlfunktion der Nieren oder gegen Entzündungen bei rheumatoider Arthritis punkten. Vor zwei Jahren hat der US-Mutterkonzern den Forschungsstandort Deutschland gekauft, der nun zu einem Antikörper gegen verschiedene Tumorarten forscht. Sollten die Arbeiten kein Medikament erzielen, kann es sein, dass Amgen die Deutschland-Tochter wieder verkauft.