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Ohne Freiheit keine Verantwortung

Von Heiner Boberski

Wissen
Wie frei sind unsere Entscheidungen?
© Gary Waters/Ikon Images/corbis

Das heurige "Philosophicum Lech"-Thema "Schuld und Sühne" aus Sicht des Wiener Philosophen Peter Kampits.


Wien. "Schuld und Sühne - Nach dem Ende der Verantwortung". Die Brisanz dieses Themas, dem sich heuer von 17. bis 21. September das Philosophicum Lech widmet, zeigt ein Gespräch der "Wiener Zeitung" mit Peter Kampits, dem emeritierten Philosophie-Ordinarius an der Universität Wien.

"Wiener Zeitung": Wie definieren Sie die Begriffe Schuld, Sühne und Verantwortung?Peter Kampits: Schuld ist ein sehr vielschichtiger Begriff, der sowohl eine ethische, eine religiöse wie auch eine ökonomische und juristische Dimension umfasst. In der christlichen Religion geht es um Schuld und Erbsünde, die von Christus am Kreuz gesühnt wurde. Auf der ethischen Ebene geht es um Verstöße gegen gesetzte Normen oder Werte. Im juridischen Bereich sind es die Gesetze, die man verletzen und damit schuldig werden kann, und im ökonomischen Bereich geht es um Geschuldetes im Rahmen eines Tauschhandels. Dazu kommt noch die psychologische Ebene: Hat man eine Missetat begangen, wogegen sich das Gewissen sträubt, fühlt man sich schuldig.

Diese Verstöße gegen eine Norm sind hauptsächlich solche, die im Handeln gegenüber anderen Personen entstehen, Schuld ist also in sehr starkem Maße mit Interpersonalität und Intersubjektivität verbunden.

Bei Sühne ging es ursprünglich um Wiedergutmachung?

Schuld wird gesühnt, abgetragen oder gebüßt. Diese Wiedergutmachung, die auch mit dem Opfergedanken verbunden ist, hat eine große religiöse Bedeutung. Im Opfer, das sich im Alten Testament, in der griechischen Mythologie, aber auch in allen Hochreligionen findet, bedeutet Sühne eine Art Wiedergutmachung, eine Anerkennung von Schuld und auch die Bitte um Vergebung. Der religiös-moralische Horizont der Sühne soll den Zorn des Gottes oder eben auch einer gesellschaftlichen Instanz besänftigen. Dostojewskis "Raskolnikow", dessen Originaltitel nicht "Schuld und Sühne", sondern "Verbrechen und Strafe" lautet, wie auch Tolstois Roman "Auferstehung" stellen die innere Wandlung von schuldig gewordenen Menschen überzeugend dar. In letzter Zeit ist der Begriff der Sühne allerdings sehr stark auf seine juristischen und ökonomischen Implikationen beschränkt worden. Jeder, der eine Straftat begangen hat, hat zu sühnen, indem er dafür Entgelt leistet, sei es durch Geldsummen oder Haftstrafen.

Oft wird heute an die Verantwortung appelliert?

Verantwortung ist ebenfalls ein vielschichtiger Begriff, von der ethisch-moralischen Verantwortung bis hin zu einer auf neutrale Handlungsräume beschränkte. Jemand kann für die Aufsicht über Räume oder Geräte verantwortlich gemacht werden. In ethisch-moralischen Sinn muss man von der Mehrstrahligkeit der Verantwortung ausgehen: Es muss jemand geben der verantwortlich ist, ein Wofür dieser Verantwortung und ein Wovor. Eine wichtige Frage ist hierbei, wieweit meine Verantwortung in Hinblick auf meine Handlungen reichen kann. Abgesehen von der gerne von Politikern strapazierten Verwendung des Begriffs Verantwortung, kann ich vor Gott, vor Institutionen, aber auch vor dem eigenen Gewissen verantwortlich sein. Verantwortung ist aber eng mit Freiheit verbunden, ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung.

Und auch keine Schuld...

Natürlich. Der Zusammenhang von Freiheit, Verantwortung und Schuld ist besonders wichtig. Wenn es auch in der Philosophie immer Tendenzen gegeben hat, dem Menschen die Freiheit abzusprechen, so ist dies durch die Aussagen der Hirnforscher und Neurobiologie in verschärftem Maße in der Gegenwart geschehen. Hier stehen radikale Vertreter der Freiheit im deutschen Idealismus, beispielsweise Fichte, oder im Existenzialismus Sartres den Leugnern der Freiheit gegenüber. Die einen setzen das Sein des Menschen mit der Freiheit gleich, die anderen leugnen Freiheit und erklären sie zur Illusion. Man beruft sich dabei auf die neuronalen Vorgänge im Gehirn, die, bevor es uns bewusst wird, unsere Entscheidungen zu bestimmen scheinen. Einen ähnlichen Angriff auf die Freiheit führen auch die Genforscher. Diese Auffassungen würden allerdings den Begriff der Verantwortung zunichtemachen und damit auch unsere derzeitige Moral und das Strafgesetz, weil dann niemand, sondern nur das Gehirn verantwortlich gemacht werden kann.

Sieht die moderne Philosophie die Wahrheit irgendwo in der Mitte? Wir sind nicht unbegrenzt frei, aber auch nicht völlig willenlos?

Dies kommt im Streit zwischen Deterministen und ihren Gegnern immer wieder zum Vorschein. Wenn man auf absolutistische Standpunkte, also auf einen totalen Freiheitsbegriff oder einen totalen Determinismus verzichtet, entsteht die Frage, inwieweit Determinismus und Freiheit kompatibel sein können. Freiheit ist dort, wo ich auch anders entscheiden und handeln kann. Wahre Freiheit kann nur eine endliche Freiheit sein. Freiheit und Autonomie sind nach wie vor hochgeschätzte Errungenschaften unserer Gesellschaft. Allerdings kann Freiheit auch sehr mühsam sein - das ist übrigens der Grund, warum viele Menschen die Freiheit an der Garderobe abgeben.

Ist das Gewissen ein religiöser Begriff oder geht er darüber hinaus?

Auch wenn der Begriff des Gewissens zweifellos religiösen Ursprungs ist, wird er in vielen ethischen Theorien auch ohne Rückbezug auf das Göttliche als eine wichtige Instanz angesehen, man kann es als die Stimme Gottes verstehen aber auch als eine Internalisierung von Normen als Produkt gesellschaftlichen Prägungen und Sozialisation. Das Gewissen eines Mafiabosses sieht sicherlich anders aus als das einer Karmeliterschwester.

Was kann beim Philosophicum zu dieser Thematik herauskommen?

Ich halte den Titel des Symposiums für zu sehr zugespitzt. Wir befinden uns sicher nicht "Nach dem Ende der Verantwortung". Entweder kommt man drauf, dass die als überholt geltenden Begriffe Schuld und Sühne doch noch große Bedeutung in unserer Gesellschaft haben, oder man bestimmt Freiheit und Verantwortung auf eine neue Art und Weise.

Verantwortung beinhaltet aber wieder die Möglichkeit von Schuld?

Für mich auf alle Fälle.