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Neue Generationen bringen Wandel

Von Heiner Boberski

Wissen
Korea legte die rasanteste Bildungsexpansion der Menschheitsgeschichte hin.
© Stephanie Maze/corbis

Demograf Wolfgang Lutz: "Das Schlimmste für die sozialen Sicherungsnetze sind Schul-Drop-outs."


Wien. "Bildungspolitik ist die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts." Diesem Satz, "der in Deutschland sowohl aus konservativen wie auch aus liberalen und sozialdemokratischen Kreisen kommt", kann der österreichische Demograf Wolfgang Lutz "viel abgewinnen". Beim gestrigen Symposium "Die Zukunft der Wohlfahrt in einem globalen Europa" in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften widmete Lutz sein Referat dem "demografischen Metabolismus" und zeigte auf, wie sehr sich eine Gesellschaft durch Bildung verändern kann.

Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erläuterte Lutz, der unter anderem das Weltbevölkerungsprogramm am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg leitet, den Begriff "Demografischer Metabolismus": "Diesen Begriff hat schon in den 1960er Jahren der amerikanische Demograf Norman Ryder vorgeschlagen. Im Wesentlichen geht es um die Erneuerung einer Gesellschaft durch neu hinzukommende Generationen. Diese Idee hat es ja schon seit der Antike gegeben: Die nächste Generation wird es besser machen, wird es anders machen."

Einstellungen bleiben stabil

Schon 2013 hat Lutz zu dieser Thematik in der führenden demografischen Zeitschrift "Population and Development Review" einen Artikel publiziert. Den im Untertitel "Eine Theorie des sozialen Wandels mit Vorhersagekraft" geäußerten Anspruch hält er für gerechtfertigt: "Ein Beispiel: Wenn wir wissen, wie viele 20-jährige Frauen heute Matura haben, haben wir auch einen guten analytischen Ansatz dafür zu sagen, wie viele 60-jährige Frauen in 40 Jahren Matura haben werden, weil das entlang der Kohortenlinie konstant bleibt." Es gebe zwar mögliche Verzerrungsfaktoren - einige machen nach 20 noch die Matura, einige Maturanten wandern aus oder ein, und die Menschen mit weniger Bildung sterben in der Regel früher als die mit höherer Bildung - aber die könne man statistisch in ein Modell einbeziehen und ziemlich genau sagen, wie in 40 Jahren die Bildungsstruktur ausschauen wird. "Das Interessante an der Theorie des demografischen Metabolismus ist, dass nicht nur die Bildung, wo das sehr schön gezeigt werden kann, sondern alle möglichen anderen Dinge, die in der Jugend erworben werden, Eigenschaften, Einstellungen, in der Regel entlang der Lebenslinie unverändert bleiben."

Wolfgang Lutz und sein Team konnten das am Beispiel der europäischen Identität zeigen: "Im Eurobarometer wurde gefragt, ob die Leute primär eine nationale Identität haben, eine europäische oder beides. In fast allen Ländern zeigte sich, dass ältere Menschen - etwa ab 45, 50 Jahren - viel stärker nur eine nationale Identität haben, die Jüngeren aber zusätzlich zur nationalen eine europäische Identität. Das kann man jetzt wie viele Politologen als einen Alterseffekt interpretieren - dass Menschen mit zunehmendem Alter engstirniger werden und nur das eigene Land sehen - oder als das interpretieren, was wir den Kohorten- oder Generationeneffekt nennen: dass die Jungen anders sozialisiert wurden - sie haben schon mehr von Europa gesehen, sind mit Europa als Selbstverständlichkeit aufgewachsen."

Die Demografen fanden heraus, dass die Einstellung der Jüngeren über ein Jahrzehnt stabil blieb und wirklich ein Kohorten- oder Generationeneffekt vorliegt. Auf dieser Basis könne man, so Wolfgang Lutz, prognostizieren, "dass auch in Zukunft trotz aller Krisen der EU, da eben diese jungen, stärker europäisch orientierten Jahrgänge nachrücken, doch die europäische Identität überhandnehmen wird".

Als schönes Beispiel für die Wirkung von Bildung nennt er Südkorea: "In den 1960er Jahren waren dort 90 Prozent noch nie in einer Schule gewesen. Und dann haben sie die rasanteste Expansion des Bildungssystems der Menschheitsgeschichte hingelegt, ähnlich wie Singapur. 1985 sind die jungen Geburtenjahrgänge in Korea schon sehr gut ausgebildet, praktisch alle schon Mittelschule und ein hoher Anteil Hochschule, während die Älteren, vor allem die Frauen über 50 zum überwiegenden Teil nie in einer Schule waren, weil eben damals, als sie im schulpflichtigen Alter waren, Korea noch ein bettelarmes Entwicklungsland war. Es dauert einfach eine ganze Generation, bis die Neuen nachrücken. Am Beispiel Südkorea und Singapur kann man deutlich zeigen: Wirtschaftswachstum war dort am stärksten, wo diese jungen, besser ausgebildeten Geburtenjahrgänge ins Haupterwerbsalter gekommen sind, wo sie wirklich Einfluss in Wirtschaft und Gesellschaft bekamen." Ähnliches gelte für die Gesundheit. "Singapur war zum Beispiel eine Malariahölle, aber dann sind sie innerhalb von acht Jahren - 1975 bis 1983 - Malaria-frei geworden. Das war auch eindeutig die Zeit, in der die besser Gebildeten in die Verantwortung gekommen sind."

Gesünder und später in Pension

In unseren Breiten gibt es, so Wolfgang Lutz, einen deutlichen Zusammenhang zwischen Bildung, Gesundheit und Pensionssystem: "70-jährige Frauen, die nur Grundschulbildung haben, leben mehr als doppelt so oft mit schweren körperlichen Beeinträchtigungen als Frauen mit Hochschulabschluss." Noch Jahrzehnte nach der Schule hänge der Gesundheitszustand davon ab, welche Bildung man hatte. Das habe sowohl mit der Art der Berufstätigkeit als auch mit der Einstellung zum Leben zu tun: "Besser Gebildete haben in der Regel ein rationaleres Herangehen, einen längeren Zeithorizont, sind Argumenten für einen gesunden Lebensstil eher aufgeschlossen als die mit Pflichtschulbildung." Höher Gebildete gehen in der Regel später in Pension: "In Zukunft wird das noch stärker werden, weil sie bessere Jobs haben und sich stärker mit ihrer Arbeit identifizieren."

Bei Bildungspolitik als Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts geht es für den renommierten Demografen um "Prävention für die nächste Generation, darum, durch Bildung möglichst alle zu befähigen, sich so gut wie möglich selbst zu helfen, dass sie die sozialen Sicherungsnetze gar nicht brauchen. Das Schlimmste für die sozialen Sicherungsnetze sind Schul-Drop-outs."