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Im Labor für verzauberte Objekte

Von Eva Stanzl

Wissen
Auf die Umsetzung kommt es an: (von links oben im Uhrzeigersinn) Blick vom Media Laboratory nach Cambridge, Massachusetts; offene bauliche Strukturen im Inneren der Fakultät; Katja Schechtner mit erleuchteten Legosteinen zur Stadtplanung; Flaschen, denen Musik entweicht; Gesichtszüge, die ein menschenähnlicher Roboter haben muss, damit er uns sympathisch ist. Fotos: MIT Media Lab/Stanzl/OSTA/David Fox/WZ

Im Media Lab des renommierten Massachusetts Institute of Technology in den USA wird die Zukunft laufend neu erfunden.


Boston/Wien. Es ist wie Zauberei. Daniel Leithinger zieht den Stoppel heraus und der Geist fährt aus der Flasche. Die unsichtbare Wesenheit ist musikalisch. Sie klimpert fröhlichen Piano-Jazz. Zweite Flasche: Dixieland, dritte Flasche: Cha-Cha-Cha. Alle Stoppel wieder zugemacht - und es ist still.

"Enchanted Objects" nennt Leithinger die Früchte seiner Arbeit, zu Deutsch "verzauberte Objekte". Wegen ihres charmanten musikalischen Effekts haben die Flaschen etwas Bezauberndes und fast sogar Entzückendes. Da die drei Begriffe im Englischen wortgleich sind, ist der Name "enchanted objects" ein Wortspiel, das den spielerischen Ansatz der Wissenschaft am Media Laboratory des Massachusetts Institute of Technology (MIT) andeutet. Das Media Lab gilt als eine der spannendsten Technologie-Werkstätten der Welt, vor allem weil sie Freigeistigkeit bei der Suche nach Lösungen fördert.

Der in Österreich geborene Medientechnologe Daniel Leithinger studierte an der Fachhochschule Hagenberg, bevor er als Master-Student zur "Tangible Medial Group" ging. Forschung an sich soll Freude machen, vermittelt er, denn aus Spaß an einer Sache entstünde auch der Nutzen. In diesem Sinne erfüllen die verzauberten Objekte einen Zweck, erklärt Leithinger, und lüftet das Geheimnis des Geistes aus der Flasche. "Der Grundsatz ist, unterschiedliche Sinne über verschiedene Sensoren zu kombinieren: Jemand ist blind, hebt den Stöpsel, hört einen gewissen Ton und erkennt die Bedeutung. Pillendosen für Blinde könnten ihren Inhalt singen oder über Musik zu verstehen geben, dass es Zeit ist, Tabletten einzunehmen."

Magischer Spiegel

Rundherum stehen noch weitere interessante Installationen: eine Sandlandschaft, die die Farben ändert, wenn man mit den Fingern die Berge und Täler umgräbt. Eine Kugel, die leuchtet, wenn die Aktien gut stehen. MIT-Wissenschafter und Erfinder David Rose beschreibt in seinem Buch "Enchanted Objects: Design, Human Desire, and The Internet of Things" eine Vision fantastischer Objekte, deren Vorzüge an Darth Vaders Laserschwert erinnern: magische Spiegel, die sich zuletzt getragene Kleidungsstücke merken, damit Betrachter vergleichen können, welches besser passt. Schirme, deren Griffe leuchten, wenn Regen kommt. Gesellschaftsfähige Roboter, die auch Eigeninitiative zeigen können. "Alles - bloß nicht der Alptraum einer schwarzen Glasfläche als Bildschirm, mit dem wir 99 Prozent unserer Zeit kommunizieren und der nur reagiert, wenn wir ihn bedienen", sagt Rose im US-Magazin "Business Insider": "Ich will so vielen Menschen wie möglich erklären, dass Mobiltelefone nicht unsere einzige Zukunft sind." Auch Roses fantasievolle Vision ist nur eine mögliche Entwicklung, die man hier ins Auge fasst. Das zeigte eine Führung, die die in Österreich geborene Architektin Katja Schechtner, Research Fellow am Media Lab, gab, an der die "Wiener Zeitung" jüngst auf Einladung des Forschungsrats im Rahmen der "Austrian Innovation Days" in Boston teilnahm.

Hugh Herr, Professor für Biomechatronik, ist Pionier für bionische Prothesen. Als Teenager froren ihm bei einem Gebirgsunfall beide Beine ab. Er konstruierte sich Prothesen, die ihm ermöglichen, nicht nur zu gehen, sondern auch wieder zu klettern. Und für eine Tänzerin, die ein Bein verloren hatte, fertigte Herr einen bionischen Tanzfuß. Die derzeit teuren Einzelanfertigungen könnten vielleicht einmal allen Menschen helfen, die Gliedmaßen verloren haben.

Katja Schechtner und ihre Kollegen planen die Stadt von morgen. "Es geht um Dinge, die die Leute brauchen, und die Konsequenzen baulicher Maßnahmen. Die Kunst ist, gewisse Folgen für Stadtväter so zu veranschaulichen, dass sie es sofort verstehen", erklärt sie. Wie ändern sich die Lichtverhältnisse in einem Häuserblock, wenn zwei Gebäude aufgestockt werden? Wie beeinflusst mehr Bürofläche die Immobilienpreise? Schechtner legt Lichtteppiche über Stadt-Modelle aus weißen Legosteinen. Die Lichtfarben verändern sich mit baulichen oder sozialen Verhältnissen - etwa können sie auch einen höheren Energieverbrauch anzeigen in dicht bewohnten Altbau-Gebieten mit vielen Restaurants und Geschäften.

Who is Who der Weltwirtschaft

146 Talente studieren und experimentieren am Media Lab bei 28 Professoren und 30 Gastwissenschaftern und Research Fellows. Die 25 Forschungsgruppen tragen Namen wie "Extreme Bionics", "Lebenslanger Kindergarten" oder "Die Oper der Zukunft". Es geht darum, seinen Vorstellungen freien Lauf zu lassen und so lange zu experimentieren, bis die Ideen Wirklichkeit werden. Dahinter steht ein Budget, das österreichische Forschungsinstitute erblassen lässt. Das Media Laboratory ist bloß eine Fakultät des MIT, hat aber mit einem Basisbudget von jährlich 35 Millionen Euro etwas mehr als ein Drittel des Jahresbudgets des Austrian Institute of Technology (AIT), das größte heimische Institut für Angewandte Forschung, zur Verfügung.

Die Liste der mehr als 80 internationalen Sponsoren liest sich wie ein Who is Who der Weltwirtschaft: Cisco, Toshiba, Estee Lauder, Jaguar, Google, Twitter, Motorola, Lego und die Rockefeller-Stiftung - sie alle ließen sich für Investments am Media Lab gewinnen. "Wir laden Konzerne dazu ein, uns Geld zu geben - ab 300.000 Dollar im Jahr sind sie dabei", erklärt Schechtner: "Der Deal ist, dass wir damit erforschen, was wir wollen, es gibt keine Direktiven. Im Gegenzug haben beteiligte Firmen für die Dauer ihrer Mitgliedschaft intellektuelles Eigentum an allem, was aus dem Media Lab hervorgeht." In anderen Worten: Sponsoren können eigene Produkte auf der Basis der Forschungsergebnisse herstellen und vermarkten. Wobei sie Partnerschaften eingehen mit den Professoren, von denen fast alle Start-up-Firmen gründen.

Die verschlüsselten Hologramme auf Bankomat- und Kreditkarten wurden hier erfunden. Teile des Kindle-Readers für E-Books sind Kinder des Media Lab. Auch ein einheitlicher Standard für Sensoren, der es ermöglichen soll, dass in Fabriken Roboter die Arbeit quasi von allein erledigen, wird hier entwickelt.

Trotz jahrelanger Erfolge musste sich das Media Lab vor nicht allzu langer Zeit neu erfinden. Die Fakultät wurde 1985 vom MIT-Professor Nicholas Negroponte gegründet. Eine Gründungsintention war die bevorstehende Konvergenz von Computertechnik, Literatur und Rundfunk, die durch rasante Umbrüche in der Informationstechnologie angetrieben wurde. Das MIT Media Lab wollte diese Prozesse wissenschaftlich begleiten und digitale Medien in Architektur und Kunst elektronische Musik, Graphik-Design, Video, Smart Citys und Mensch-Maschine-Schnittstellen erforschen. "Vieles wurde hier zum ersten Mal gedacht", blickt Schechtner zurück.

Radikaler Schnitt

Ab 2005 begann Negroponte, sich seinem Hundred-Dollar-Laptop-Project (HDLP) zu widmen, das er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellt hatte. Er bezeichnete tragbare Computer für alle als eines der wichtigsten Projekte des digitalen Zeitalters. Gleichzeitig begannen Unternehmen, zu hinterfragen, was das Besondere am Media Lab sei. Auch intern zeichneten sich atmosphärische Veränderungen ab.

"Ab einem gewissen Zeitpunkt funktionierte das, was früher funktioniert hat, nicht mehr. Einige Professoren gingen, andere Studenten kamen. Man musste sich neu orientieren: Am Media Lab sollten spektakuläre Innovationen nicht mehr nur hergezeigt, sondern Lösungen in die Umgebung gebracht werden", berichtet Schechtner. 2011/2012 entschied man sich zu einem radikalen Schnitt und engagierte den Japaner Joi Ito als neuen Direktor. Der Vordenker gab Studenten mehr Möglichkeit, eigene Projekte zu verfolgen, und machte Unternehmen nicht nur zu Sponsoren, sondern zu Mitgliedern. "Sie geben uns Geld und Zeit und wir arbeiten mit ihnen", sagt Schechtner.

Wäre ein Institut mit derart offenen Zugängen zu Problemen in Österreich möglich? Sonja Schmid, die jüngst den Ascina-Award 2014 des Vereins Österreichischer Forscher in Nordamerika erhielt, vermutet: Nein. "Der größte Unterschied zwischen den Ländern liegt im Grad der Flexibilität", betont die Wissenschaftsforscherin des Virginia Tech. Zudem hat keine heimische Fakultät ein Forschungsinstitut wie das MIT, dessen Stiftungsvermögen 2013 mit 8,59 Milliarden Euro höher war als das gesamte österreichische Forschungsbudget, im Hintergrund.