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Ein Schädel verbindet Kontinente

Von Heiner Boberski

Wissen
Die computertomographische Version des 55.000 Jahre alten Manot- Fundes und die Manot-Höhle im Hintergrund.
© Gerhard Weber

55.000 Jahre altes Schädelfragment aus Israel wirft neues Licht auf Menschheitsgeschichte.


Wien. Wann und wie kam der moderne Mensch erstmals von Afrika nach Europa? Nach der als gut gesichert geltenden Out-of-Africa-Theorie breitete sich die Gattung Homo von Afrika über die Welt aus. Nach einer ersten Auswanderungswelle von Homo erectus vor 1,9 Millionen Jahren verließ demnach Homo sapiens vor 60.000 bis 70.000 Jahren erneut den afrikanischen Kontinent. In Europa angekommen ist er aber erst vor etwa 45.000 Jahren - zumindest gab es bisher keine früheren Belege.

Nun aber haben Experten aus Israel, von der Universität Wien und vom Max-Planck-Institut Leipzig einen Fund aus der Manot-Höhle im Norden Israels mit modernsten Computer-Methoden untersucht und datieren die Überreste des Gehirnschädels auf ein Alter von 55.000 Jahren. Die im Fachjournal "Nature" publizierten Ergebnisse werfen neues Licht auf die Menschheitsgeschichte und die Verbindung von Kontinenten.

Manot, eine Karsthöhle an der libanesischen Grenze, wird seit 2010 erforscht. Man hat dort zahlreiche archäologische Objekte entdeckt, die eine Besiedelung der Höhle seit mehr als 100.000 Jahren belegen. Da ihr Dach vor etwa 30.000 Jahren einstürzte, blieben die Fundschichten bis in unsere Zeit versiegelt. Außer Steinwerkzeugen und Tierknochen fand sich in einer etwas abseits gelegenen Nische auch etwas ganz Besonderes: eine sehr gut erhaltene "Kalotte", also der Oberteil eines Gehirnschädels.

An der Universität Wien hat man in den letzten 15 Jahren das Verfahren der "Virtuellen Anthropologie" entwickelt. Dabei werden dreidimensionale Daten von Objekten mit ausgefeilten mathematisch-statistischen Methoden analysiert. Damit lassen sich wesentlich präzisere Aussagen zur Klassifikation eines Gehirnschädels machen als bisher. Gerhard Weber vom Department für Anthropologie der Universität Wien, wurde daher zur Mitarbeit nach Israel eingeladen. Zusammen mit seinem früheren Doktoranden, Philipp Gunz, der nun am Max-Planck-Institut in Leipzig tätig ist, nahm er computertomographische Aufnahmen unter die Lupe.

Es stellte sich heraus, dass der Fund nicht nur zeitlich genau in eine bisher unbekannte Phase der Auswanderung aus Afrika passt, sondern auch von seiner Morphologie her die Lücke schließt. Weber erklärt: "Die Gestaltanalysen zeigen eindeutig, dass Manot ein moderner Mensch war. Das Interessante ist, dass die ähnlichsten Schädel in unseren Vergleichsdaten entweder von heute lebenden Afrikanern stammen oder von jenen modernen Menschen, die vor 20.000 bis 30.000 Jahren in Mitteleuropa lebten, etwa in Tschechien, wie Mladec 1 oder Predmostí 4."

Ein Glücksfall war, dass sich in der Tropfsteinhöhle von Manot Kalzit-Schichten an der Innen- und Außenseite des Schädelfragmentes angelegt hatten. Das erlaubt eine Datierung mit der zuverlässigen Uranium-Thorium-Methode, die das sensationelle Alter von rund 55.000 Jahren ergab. Manot ist somit 10.000 Jahre älter als alle modernen Menschen, die in Europa gefunden wurde, und um etwa 5000 bis 10.000 Jahre jünger als jener Zeitpunkt, den Genetiker für die Entstehung unserer direkten Ahnenlinie in Afrika vorhersagten.

Treffen mit Neandertalern

Eine der Migrationsrouten von Afrika nach Europa führt durch den levantinischen Korridor. Alter und Morphologie von Manot legen nahe, dass die ersten modernen Menschen diesen Weg nahmen und bereits dort, nicht erst in Europa Neandertaler trafen und sich mit ihnen vermischten. "Dieser Schädelfund aus Manot ist, was wir Anthropologen seit Jahrzehnten gesucht haben. Er verbindet perfekt die Teile der Menschheitsgeschichte in Raum und Zeit", so Webers Resümee.