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Was die Handschrift im Gehirn bewirkt

Von Eva Stanzl

Wissen

Im Bildungsvorzeigeland Finnland sollen die Schulen künftig keine lateinische Schreibschrift mehr lehren.


"Wiener Zeitung": Finnland will die lateinische Schreibschrift vom Lehrplan streichen. Was geht damit alles verloren?Christian Marquardt: Handschrift ist ein Kulturgut mit einer langen Tradition. Außerdem spielt sie eine Rolle im Lese- und Schreiberwerb. Mit der Hand zu schreiben, fördert die Erinnerungsleistung der geschriebenen Inhalte und erhöht die Vorstellungskraft dessen, worüber man schreibt. Somit ist auch die kreative Leistung höher: Das Schreiben auf Papier aktiviert das Gehirn ganzheitlicher als das Tippen auf dem Handy, Tablet oder PC.

Allerdings muss man das Schreiben genau definieren: Handschrift und Ausgangsschrift (damit sind Blockbuchstaben und Lateinschrift gemeint, Anm.) sind nicht das Gleiche. Zuerst lernt ein Kind Blockbuchstaben und damit das Konstrukt. Wenn es dieses beherrscht, lernt es die lateinische Schreibweise, die auch aus ästhetischen Gründen formschön, leicht verkünstelt und stilisiert ist. Diese lateinische Ausgangsschrift bildet den Einstieg für die individuelle Handschrift - eine bewegungsökonomischere Schrift. Jeder Mensch wird Buchstaben vereinfachen, Richtungswechsel vornehmen oder öfter absetzen: Alle Stile sind akzeptiert, solange die Schrift lesbar und schnell schreibbar ist.

Was bringt das Erlernen der Schreibschrift für die Motorik?

Das motorische Lernen beginnt, wenn man schnell schreiben muss - es wirft alles über Bord, was die Geschwindigkeit behindert. Wenn ein Diktat ein Tempo vorgibt, das das Kind nicht einhalten kann, muss es Lösungen finden. Finnland will künftig nur Druckbuchstaben unterrichten und danach soll jeder schreiben, wie er will. Ob man jedoch aus Druckbuchstaben eine normale Schreibschrift entwickeln kann, ist fraglich. Ich glaube es nicht.

Was passiert im Gehirn, wenn man einen Text mit der Hand schreibt?

Es gibt Vergleichsstudien zwischen Studenten, die in der Vorlesung mittippen und solchen, die in der Vorlesung mitschreiben. Diese zeigen, dass sich bei den Schreibern die Information besser im Gehirn verankert, während sich die Tipper im Nachhinein weniger gut an die Präsentation erinnern konnten. Schreibende benutzen somit viele Modalitäten im Gehirn. Man kann davon ausgehen, dass die gesamte kognitive Entwicklung von Kindern durch Schreiben stärker befruchtet wird als durch Tippen, weil mehr benachbarte Funktionen - Vorstellungskraft, Kreativität, Rechtschreibung, Erinnerungsvermögen - angeregt werden. Was die Auswirkungen sind, wenn jemand nur noch zu tippen lernt, aber nicht zu schreiben, wurde noch nicht empirisch getestet - ich halte ein solches Experiment jedoch für relativ gefährlich.

Multitasking erscheint oft als letzter Ausweg für die kommunikativen Anforderungen der digitalen Leistungsgesellschaft. Schadet das der Intelligenz?

Nein, digitale Medien lassen nicht per se verblöden. Nur, wenn man seinen gesamten Alltag mit allen Sinnen auf sie überträgt, wird es schwierig: Es ist einfach etwas anderes, ob ich mir einen Film über Afrika anschaue, oder ob ich dort bin und die Luft atme. Wenn also über digitale Medien alles auf Information reduziert wird, aus der Wahrnehmung und Empathie herausgezogen sind, hat das Auswirkungen auf unser Leben. Wir müssen das, was Menschen ausmacht, ernst nehmen, anstatt digitale Medien den Alltag so weit gestalten zu lassen, dass wir als Menschen in der Bedeutung zurücktreten und nur noch Informationseingaben machen.

Der Mensch hat die Schrift erfunden. Ist der Verzicht auf eine eigene Handschrift der Verzicht auf eine Form des Selbstausdrucks?

Da wir unsere Schrift mit Gefühl füllen können, ist das Schreiben in unserer Person verankert und hat persönliche Bedeutung. Das führt dazu, dass ein handgeschriebener Aufsatz möglicherweise kreativer wird als ein getippter, weil er den Denkprozess ganzheitlicher erfasst. Beim Schreiben werden sehr viele Hirnareale gleichzeitig aktiviert - das handschriftliche Verfassen ist also anders eingebettet in die Hirnaktivität als das Tippen von Inhalten.

Man kann aber auch emotional tippen - etwa, wenn man wütend ist und auf eine Tastatur einhämmert.

Aber das ändert nichts an der Bildschirmschrift. Wenn jedoch Ihre Handschrift ein expressiveres Bild abgibt als normalerweise, dann ist es ein bisschen so, als würden die erregt reden. Man sollte diese psychologisch-soziale Funktion nicht unterschätzen.

Viele Teenager experimentieren gerne mit Schriftbildern. Gibt es eigentlich auch Menschen, die dieses Bedürfnis nicht haben?

Im motorischen Schreibenlernen müssen Kinder und junge Menschen viel auf Tauglichkeit ausprobieren. Teenager, die nicht mit Schriftbildern experimentieren, haben ein Problem: Die Schrift manifestiert sich ihnen nicht und es kommt zu einer Störung des Schreiblernprozesses. In Deutschland haben mittlerweile 30 Prozent der Jungen und zehn bis 12 Prozent der Mädchen Probleme beim Schrifterwerb: Der Schreibunterricht hat bei ihnen keinen richtigen Erfolg.

Das erscheint enorm viel. Warum schneiden die Buben noch schlechter ab als die Mädchen?

Wenn man kein Interesse an der Schrift hat und nicht experimentiert, lernt man sie schwer. Mädchen haben generell mehr Interesse an dieser Form der Kommunikation. Jungen sind desinteressierter und betätigen sich bereitwilliger am PC.

Warum entwickeln manche Menschen ein Schriftbild, das landläufig als "unleserlich" bezeichnet wird?

Am Anfang, wenn es darum geht, die Schrift kennenzulernen, kommen die Schulkinder irgendwann in die Not, die erlernte Kalligrafie in einen effizienten Schreibprozess übersetzen zu müssen, es muss um den Faktor fünf schneller geschrieben werden. Wenn sie dann nicht genug üben, nicht genug Unterstützung bekommen oder zu wenig Freiraum, wird die Schrift unleserlich und verschliffen, bevor sie überhaupt geformt ist.

Früher hatten Volksschulkinder Unterricht in "Schönschreiben". Würde das heute noch etwas bringen?

Heute ist man offener und streicht eigene Möglichkeiten, Schrift zu gestalten, stärker hervor - es sind andere Zeiten. Früher diente die Schrift als Regelwerk, über das Kinder das Konzept Schule präsentiert bekamen: Auf einmal konnten sie nicht alles frei ausprobieren, sondern mussten sich an die Regeln, Vorgaben und Leistungsvergleiche halten. Über Schreibschrift und Schönschrift konnte man somit die Kinder erziehen. Man hatte ein Regelwerk, das sie sehr dizipliniert, fokussiert, und aufmerksam befolgen mussten, um nicht zu scheitern. Es ist nachgewiesen, dass Kinder mit Schreibschwierigkeiten in ihrer gesamten Schullaufbahn mehr Probleme bekamen. Somit waren Schönschreiben und Disziplinierung eine unglückliche Mischung: Jene, die darin gut funktionierten, hatten bessere Chancen, in der Schule gut klarzukommen.



Wie verändern sich geschriebene Inhalte durch das Medium, in dem sie verfasst werden?

Heute werden zwei Wege der geschriebenen Kommunikation beschritten. Der eine ist Information in der Cloud, in der Inhalte, deren Vielfalt wir noch gar nicht überblicken, zentral abgespeichert werden. Es entstehen neue Informationssysteme, deren Verarbeitungskapazität sich jedes Jahr verdoppelt. Schon heute wird auf Facebook alles, was meine Freunde machen, zu mir in Beziehung gesetzt, daraus wiederum werden Profile erstellt und hunderte Seiten vollgeschrieben mit irgendwelchen Dingen, die mich betreffen. Handschrift dagegen zeigt die Gefühle, die jemand hat - das Schreiben ist ein Ausdruck der Person in einer bestimmten emotionalen Umgebung. Viele Menschen wollen diese Gefühle zunehmend verdrängen. Wenn wir jedoch die Privatsphäre zunehmend digitalisieren, drehen wir die Welt um: Überspitzt gesagt wäre das in etwa so, als würden die Menschen immer mehr zu Robotern und die Maschinen immer mehr zu Menschen.

Zur Person

Christian Marquardt

ist Handschriftexperte und forscht an den motorischen Grundlagen des Schreibens. Er promovierte an der Fakultät für medizinische Psychologie der Universität München zum Thema kinematische Bewegungsanalyse. Seit 1990 ist er Mitglied der Entwicklungsgruppe Klinische Neuropsychologie am Klinikum München-Bogenhausen. Gemeinsam mit seinem Team entwickelte er das Computerprogramm CSWin, das die Motorik beim Schreiben analysiert. 2003 gründete er die Firma "Science and Motion" zur Bewegungsanalyse im Sport. Marquardt ist wissenschaftlicher Beirat im Schreibmotorik Institut Heroldsberg für Lehrer-Ausbildung.