Ohne die Einzelteile kein Ganzes: Für Erfolg muss auf alle Verlass sein. - © corbis/Sean Gallagher
Ohne die Einzelteile kein Ganzes: Für Erfolg muss auf alle Verlass sein. - © corbis/Sean Gallagher

"Wiener Zeitung": Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch eine "Evolution der Ordnung, von Atomen bis zu Wirtschaftssystemen". Die Argumentation beruht auf Computer-Berechnungen und ist verdeutlicht durch Grafiken. In der Finanzkrise gewinnt man allerdings den Eindruck, in der Wirtschaft herrsche Chaos. Ist der Eindruck falsch, und was haben physikalische Teilchen mit der Weltwirtschaft zu tun?

Cesar Hidalgo: Das Universum besteht aus Energie, Materie und Information. Information macht das Universum interessant, weil sie ihm Ordnung, Struktur und Komplexität verleiht. Mein Buch liefert eine Geschichte der Information als "Naturgeschichte" der Ordnung, von den kleinsten Strukturen des Lebens bis zu großen, menschengemachten Wirtschaftssystemen.

Wirtschaftswachstum beruht auf der Fähigkeit, aus Information Handelsgüter von Wert zu erzeugen - also Atome in eine Ordnung zu bringen, für die Menschen bereit sind, Geld zu bezahlen. Nehmen Sie an, Sie fahren mit Ihrem neuen Bugatti gegen eine Wand. Umgerechnet auf den Kilopreis war das Metall, aus dem das Auto gemacht ist, vor dem Unfall sehr hoch und ist nach dem Unfall weitaus niedriger. Der Wert des Bugatti hat somit nichts mit dem Material zu tun, aus dem er gefertigt ist, sondern er ergibt sich durch die Art und Weise, wie die Atome dieses Materials arrangiert wurden. Ähnlich evolvierte der Apfel, den wir als Obst essen, bevor wir wussten, dass er überhaupt existiert. Der gleichnamige Computer entsprang hingegen jemandes Vorstellungskraft. Ein Apple Mac ist kristallisierte Information - also ein greifbares Objekt, das als Fiktion geboren und dann zu geordneter Information gemacht wurde.

- © MIT
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Hinter jedem Produkt steht eine Idee, doch manche Länder ziehen eine höhere Ausbeute aus ihren Produkten als andere. Warum?

Ein Narrativ ist, dass reiche Länder die armen Länder ausbeuten, weil sie ihnen die Rohstoffe wegnehmen. Ein tieferes Verständnis der Weltwirtschaft zeigt jedoch, dass es in etwa umgekehrt ist: Chile exportiert Kupfer, dessen Wert nur deswegen hoch ist, weil andere Länder elektrische Leiter damit erzeugen. Somit generieren jene Länder den Wert eines Rohstoffes, die sich Anwendungen dafür einfallen lassen. Chile macht aber trotzdem Geld, obwohl es keinen Wert generiert hat. Es verdient mit an einer Expertise, die aus anderen Teilen der Erde kommt. Etwas Ähnliches gilt für Öl: Vor 300 Jahren lag es tief unter der Erde und kümmerte niemanden. Heute ist es zentral in der Weltwirtschaft, weil wir damit Maschinen betreiben, heizen oder Materialien erzeugen, und das benötigt Fachkenntnisse.

Dennoch wird auf dem Weltmarkt so billig gekauft und so teuer verkauft wie möglich, denn letztlich geht es um Geld.

Rohstoffe wären aber viel billiger, wenn niemand Verwendung für sie hätte. Bevor es Strom gab, benötigte kaum jemand Kupfer - das Metall gibt ja nicht einmal besonders gute Kochtöpfe ab. Und eine Buchidee ist nur eine Idee - ein Buch zu schreiben hingegen kristallisierte Information und ein Objekt, das man anderen zeigen kann. Sie putzen sich die Zähne mit einer Paste, über deren Zusammensetzung sich andere Menschen Gedanken gemacht haben, und die ihnen mehr Komfort ermöglicht als keine Zahnpasta. Es geht also nicht nur um Geld.

Aber worum geht es in der Wirtschaft dann?

Die Wirtschaft folgt einer Hierarchie, in der Geld am wenigsten wichtig ist. Ohne Geld können Sie nichts kaufen, auf einer einsamen Insel ist Geld nichts wert. Man kann das Geld haben, ein Auto zu kaufen, oder man kann ein Auto besitzen. Wertvoller und entscheidender noch als beides ist jedoch die Fähigkeit, Autos zu machen.

Warum sind manche Länder innovativer und reicher als andere?

Es ist eine Frage dessen, wie eine Gesellschaft organisiert ist. In Wien, Stuttgart, Paris, New York oder Silicon Valley schaffen und verkaufen die Menschen fantastische Dinge - in anderen Gebieten passiert hingegen nichts. Um Produkte zu erfinden und zu erzeugen, benötigt man nicht nur Anreize und Motivation, sondern auch Wissen, Erfahrung und Expertise. Ob all diese Bestandteile vorhanden sind oder nicht, ist abhängig von mehreren Faktoren.

Menschen haben eine geringe Kapazität, Wissen anzusammeln: Wer Zahnarzt werden will, muss zuerst gehen, sprechen, alle Schulfächer und Medizin lernen und dann viel üben. Das menschliche Fassungsvermögen ist durch die Lebensdauer begrenzt: Wäre die Gesellschaft ein großer Computer, wäre jeder von uns ein winziger Computer-Chip. Ähnlich können Unternehmen nicht endlos wachsen. Je größer eine Firma wird, desto höher werden die internen Kosten. Wenn es billiger ist, Tätigkeiten auszulagern, werden Unternehmen es tun. Um Wachstum zu generieren, müssen sich Firmen außerdem zu Netzwerken zusammenschließen: Zulieferer machen die Autoteile, Techniker die Software und IT-Programmierer die Website. Ähnlich sind für die Produktion eines iPhones viele Leute nötig: Einer muss die Metalle fertigen, der Nächste die Software, der Nächste die Elektronik.

Noch einmal: Warum sind manche Länder innovativer und reicher als andere? Muss eine Gesellschaft in Netzwerken organisiert sein, damit ihre Kristalle der Information den Weg ans Tageslicht finden?