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Impfen kann sich doppelt lohnen

Von Roland Knauer

Wissen

Schutz gegen Masern verhindert auch Todesfälle durch andere Infektionen.


Berlin. Eine nüchterne Analyse spricht eindeutig für eine Masern-Impfung: Die Experten des Robert-Koch-Instituts in Berlin gehen von rund einem Todesfall bei tausend Masern-Infektionen aus. Tatsächlich registrierten die Behörden bei der zur Zeit langsam abklingenden Masern-Welle in Berlin einen einzigen tödlichen Ausgang bei wenig mehr als tausend Infektionen bis Anfang Mai 2015. Im Vergleich dazu ist das Risiko der Impfung sehr gering: Todesfälle wurden bisher nicht nachgewiesen, und auf eine Million Impfungen kommt erheblich weniger als eine Hirnhaut-Entzündung.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO vermutet freilich schon einige Zeit, dass diese Rechnung nur ein Teil der Wahrheit ist. Anscheinend bietet die Impfung nämlich deutlich mehr als einen zuverlässigen Schutz gegen die riskante Masern-Infektion. Diese Vermutung bestätigen Michael Mina von der Princeton University in den USA und seine Kollegen jetzt in der Zeitschrift "Science": In den zwei bis drei Jahren nach einer Impfung finden die Epidemiologen erheblich weniger Todesfälle durch Infektionen, die nicht von Masern-Viren ausgelöst wurden.

Schwächung des Immunsystems

Die Forscher stützen sich dabei auf Länder wie die USA, England, Wales und Dänemark, in denen Masern-Impfungen und Todesfälle durch Infektionen gleichermaßen gut dokumentiert sind. In Amerika und Großbritannien wurde bereits in den 1960er Jahren ein sehr großer Teil der Kinder geimpft, in Dänemark geschah das rund zwei Jahrzehnte später am Ende der 1980er Jahre. Erwartungsgemäß meldeten die Ärzte danach drastisch weniger Masern-Infektionen - die Impfung schützte offensichtlich gegen diese schwere Krankheit. Gleichzeitig registrierten die Behörden in England und Wales aber eine Halbierung der Todesfälle durch Nicht-Masern-Infektionen. In Dänemark war dieser Rückgang ab Beginn der 1990er Jahre sogar noch ein wenig stärker, in den USA scheint die Abnahme nur wenig schwächer zu sein.

Weshalb aber schützt die Impfung offensichtlich auch gegen andere Infektionen als Masern? Genau wie die WHO haben die Forscher einen Verdacht: Offensichtlich schwächt eine Masern-Infektion das Immunsystem, das den Organismus vor Infektionen schützt. Eigentlich harmlose Infektionen können nach einer Masern-Infektion daher sehr gefährlich werden. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu: "Bereits 1908 erkannte ein Kinderarzt, dass der Tuberkulin-Test nach einer Masern-Infektion nicht mehr funktioniert", berichtet Sibylle Schneider-Schaulies von der Universität in Würzburg, die seit drei Jahrzehnten die Wirkung von Masern-Viren auf das Immunsystem untersucht. Bei diesem Test wird ein Präparat aus Myko-Bakterien in die Haut gespritzt. Bei einer aktuellen oder früheren Tuberkulose-Infektion, die von diesen Bakterien ausgelöst wird, reagiert das Immunsystem und bekämpft die eingespritzte Lösung. Um die Einstichstelle bildet sich eine Quaddel, die dem Arzt die Tuberkulose-Infektion verrät. Es sei denn, der Patient hatte vorher Masern gehabt, die offensichtlich das Immunsystem schwächen.

Seit mehr als einem Jahrhundert versuchen die Forscher diesen Vorgängen auf die Schliche zu kommen, kämpfen dabei aber mit einem großen Handicap: "Masern-Viren vermehren sich in Mäusen kaum", erklärt Sibylle Schneider-Schaulies. Virologen und Immunologen konzentrieren sich daher auf Untersuchungen im Labor, in denen sie allerdings kein vollständiges Immunsystem untersuchen können.

Infizierte "Gedächtniszellen"

Dabei stießen sie vor einigen Jahren auf einen interessanten Zusammenhang: Masern-Viren infizieren vor allem die Zellen des Immunsystems. "Dabei bevorzugen sie die Gedächtniszellen", erklärt Jürgen Schneider-Schaulies, der genau wie seine Frau Sibylle am Institut für Virologie und Immunbiologie der Würzburger Universität Masern-Viren untersucht. Wenn die Infektion aber diese Gedächtniszellen ausschaltet, erinnert sich das Immunsystem nicht mehr an frühere Infektionen, kann die betroffenen Erreger nicht mehr zügig bekämpfen und seine Immunität verschwindet: Der Organismus droht den Kampf gegen Viren und Bakterien zu verlieren, gegen die er vor der Masern-Infektion gut gerüstet war.

Genau dieser Vorgang aber könnte die häufigen Todesfälle durch andere Infektionen nach einer Masern-Erkrankung erklären, vermuten die Epidemiologen um Michael Mina von der Princeton-Universität. Nach einer Masern-Impfung wird das Immunsystem dagegen nicht geschwächt und altbekannte Infektionen werden von den Gedächtniszellen erkannt und eliminiert, bevor sie Schaden anrichten können. Die Masern-Impfung ist also viel mehr als eine Impfung gegen Masern und ihr Nutzen ist noch viel größer, als bisher vermutet.