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Schweres Schicksal

Von Alexandra Grass

Wissen
Für Kinder liegt das Risiko, wie Mutter oder Vater Adipositas zu entwickeln, bei 40 Prozent.
© Corbis/Siteman

Oftmals helfen nur noch Magenband oder Magenbypass, um eine Gewichtsreduktion zu erreichen.


Wien. Essen sie in der Öffentlichkeit, werden sie schief angesehen. Stellen sie sich, etwa beim Sport, ungeschickt an, werden sie ausgelacht. Und nach wie vor werden sie zur Belustigung anderer in Mülltonnen gesteckt. Mit Realitäten wie diesen ist so manch Übergewichtiger konfrontiert. Verhöhnung und Diskriminierung finden täglich statt - sowohl unter Kindern und Jugendlichen als auch unter Erwachsenen, berichtete am Donnerstag die Psychologin und Adipositas-Expertin Elisabeth Ardelt-Gattinger von der Universität Salzburg.

Doch der Fettleibigkeit Herr zu werden, scheint schwieriger zu sein, als oftmals suggeriert. "Wir haben gelernt, dass man abnimmt, wenn man sein Bewegungs- und Ernährungsverhalten umstellt", betonte Karin Schindler, Ernährungswissenschafterin an der MedUni Wien. Doch bei morbider Adipositas, wie die krankhafte Fettsucht ab einem Body-Mass-Index von 40 bezeichnet wird, stimme das nur bedingt.

Bariatrische Chirurgie

Der Lösungsansatz der Medizin lautet in Fällen wie diesen bariatrische Chirurgie. Magenband oder Magenbypass sollen helfen, nach vielen erfolglosen und frustrierenden Diät-Versuchen zur gewünschten Gewichtsreduktion zu gelangen. Die morbide Adipositas betrifft immerhin 15 Prozent der Männer und 10 Prozent der Frauen. Bei Kindern hat sich die Fettleibigkeit seit dem Jahr 2000 verdreifacht.

"Extremes Übergewicht ist eine schwere Erkrankung", stellte der Diabetologe Bernhard Ludvik von der Wiener Rudolfstiftung fest. Folgeerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen würden zu Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen führen. Konservative Strategien wie Ernährungsumstellung, vermehrte körperliche Aktivität und auch medikamentöse Interventionen würden häufig versagen. Eine Operation könnte hier Abhilfe schaffen.

Doch oftmals seien die Betroffenen selbst zu wenig informiert, ortet der Chirurg Karl Miller, Präsident des im August in Wien stattfindenden Kongresses für Adipositaschirurgie IFSO (International Federation for the Surgery of Obesity) Mängel in der Betreuung durch Hausärzte. Die Patientenströme würden heutzutage vorwiegend über das Internet gesteuert. Nur zehn Prozent der Betroffenen würden vom Allgemeinmediziner zum Spezialisten überwiesen. Dabei könnte dieser in der Beratung einen wichtigen Pfeiler darstellen. Vor allem in der Nachbetreuung, betonten die Experten. Die Patienten "brauchen definierte und lebenslange Begleitung".

In Österreich liegt die Zahl der Eingriffe bei rund 2500 pro Jahr. Doch postoperativ gebe es viel zu lernen, damit die Operation erfolgreich sein kann. Denn die bariatrische Chirurgie alleine stelle keine Lösung dar, so Schindler.

Mehrere Berater

Die Compliance, also die aktive Mitarbeit des Patienten, könne nur dann gewährleistet werden, wenn "man Betroffenen ganz klar erklärt, worum es geht". So gelte es, künftig weniger und langsam zu essen, gut zu kauen und mit Nahrungsergänzungsmitteln auftretende oder vorhandene Nährstoffmängel auszugleichen. Der Spaß am Sport müsse erst beigebracht werden. "Die Erkrankung kann nur interdisziplinär vernünftig behandelt werden", betont Miller die Bedeutung der Mitarbeit der vielen Fachexperten.

Die Folgen der Adipositas zu behandeln, sei auch Sache der Psychologie, so Ardelt-Gattinger. Die emotionalen und kognitiven Denkmuster zu Ernährung und Sport seien bei Übergewichtigen völlig andere. Bevorzugt werden meist Deftiges und Snacks, der Genuss am Essen fehlt. Die Motivation zur Bewegung befindet sich praktisch im Keller. Mit einer Operation könne zumindest die Sucht nach übermäßigem Essen eingedämmt werden, doch der Genuss bleibe den Betroffenen auch danach verwehrt. Auch würden jene Menschen weniger Vorlieben für gesunde Ernährung zeigen.

Entstanden sei diese Suchterkrankung mit dem Entstehen der Überflussgesellschaft, in der wir leben, betonte Ludvik. Häufiger betrifft sie Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten und Migranten. Die Zunahme des Kohlenhydratkonsums, sozialer Stress, verminderte Mobilität, aber auch der Städtebau würden ihr Übriges zur Situation beitragen. Ludvik spricht von einem multifaktoriellen Geschehen, wo es gilt, an vielen Stellen anzusetzen. Letzten Endes würden auch Genetik und Epigenetik eine maßgebliche Rolle spielen. "Ist ein Elternteil adipös, besteht für das Kind eine 40-prozentige Wahrscheinlichkeit, das gleiche Schicksal zu erleiden."

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Krankenkasse zahlt die Eingriffe ab einem BMI von 40. Ab 35 nur dann, wenn eine Begleiterkrankung wie Diabetes vorliegt, erklärte Gerhard Prager, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für bariatrische Chirurgie. Unter den Patienten befinden sich 80 Prozent Frauen und 20 Prozent Männer. Präoperativ erfolgt eine Abklärung, ob hormonelle oder Essstörungen vorliegen, die anderweitig behandelt werden könnten. Mithilfe der Untersuchungen können auch schon vor einem Eingriff Mangelzustände behoben oder andere mögliche Risiken entdeckt werden.

Informationen rund ums Thema bieten auch Selbsthilfegruppen, wie Elisabeth Jäger, Vorsitzende der Adipositas Selbsthilfegruppen Österreich, betonte. Der Austausch mit Gleichgesinnten gebe vielen Betroffenen psychische Stabilität, die ihnen helfe gesellschaftlich wieder Fuß fassen zu können. Auch beim Kongress selbst wird es ein attraktives Angebot für Betroffene geben.