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Zeit ist nicht nur Geld

Von Heiner Boberski

Wissen
Keine Substanz, aber messbar: Sonnenuhren messen Zeit über die Länge des Schattens .
© Imagemore/Corbis

Die Wissenschaftstage auf dem Semmering über die Geschichte der Zeitmessung und den Zeitdruck von heute.


Semmering. Wenn der Rockpoet Bob Dylan singt, dass sich die Zeiten ändern ("The times, they are a changin‘"), oder der Possendichter Johann Nestroy in einem Couplet-Refrain "Die Zeit ändert viel" verkündet, so treffen sie eine ähnliche Aussage: Zeit ist mit Veränderung verbunden. Ein Wissenschafter wie Gerhard Dohrn-van Rossum, Professor für Geschichte des Mittelalters an der Technischen Universität Chemnitz, drückt es so aus: "Zeit ist nicht ein Etwas, Zeit ist keine messbare Substanz, wir messen Fluss und Wirkung." So maß man in alten Zeiten mit Sonnenuhren in Form von Schattenstäben oder Wasseruhren das Vergehen der Zeit, später auch mit Kerzenuhren, die nach einer bestimmten Stundenzahl erlöschen sollten.

Entwicklung der Uhr ebenso bedeutend wie der Buchdruck

"Zeit in den Wissenschaften" lautet heuer das Thema des alljährlichen Österreichischen Wissenschaftstages auf dem Semmering (22. bis 24. Oktober). Für den Wiener Chemiker Wolfgang Kautek, der namens des Veranstalters, der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, die Tagung eröffnete, lässt die Auseinandersetzung mit der Zeit "in allen Wissenschaften große Rätsel über". Kehrt, wie es ein zyklisches Zeitverständnis annimmt, alles irgendwie wieder? Oder bedeutet Zeit, wie die jüdisch-christliche Tradition meint, die Entwicklung von einem zu einem anderen Zustand? Man könne sich, so Kautek, dem Begriff von mehreren Seiten nähern - von der Physik, von der Philosophie, von der Psychologie, aber auch von der Ökonomie - und das wolle man auf der Tagung auch tun.

Zu Beginn aber widmete sich Gerhard Dohrn-van Rossum der Geschichte der Zeitmesstechnik. Aus seiner Sicht hat die Einführung der automatischen Uhr, die man als Vorläufer des modernen Computers ansehen könne, die gesellschaftliche Entwicklung "mehr geprägt als die Dampfmaschine". Der Wunsch nach einem präzisen Chronometer wurde unter Wissenschaftern bereits um 1270 laut, doch bis zum Ende des 13. Jahrhunderts seien Formen der Zeitmessung nur aus Klöstern - um die Gebetszeiten per Glockenton anzuzeigen - bekannt.

Entscheidend wurde der zu Beginn des 14. Jahrhunderts in verschiedenen Varianten entwickelte Mechanismus der Uhrwerkhemmung, auf dem die ersten öffentlichen Turmuhrwerke mit stündlichem Schlag beruhten - erstmals nachweisbar spätestens 1335 in einer Kapelle der Familie Visconti in Mailand, in den folgenden Jahrzehnten in halb Europa. Diesen Fortschritt hält Dohrn-van Rossum für "kaum weniger bedeutend als die Erfindung des Schießpulvers und des Buchdrucks".

Die Einteilung des Tages in zweimal zwölf Stunden geht bereits auf die altbabylonische Mathematik zurück, die auch den Kreis in 360 Grade teilte. Unser Dezimalsystem spielte auch bei der Einteilung in sechzig Minuten zu jeweils sechzig Sekunden noch keine Rolle. Um die Länge bestimmter Aktionen - zum Beispiel einer Predigt - zu beschränken, wurden ab dem Spätmittelalter gerne Sanduhren verwendet.

"Wir werden getrieben von den Vorgaben der Systeme"

"Es gab auch schon ein Nachtleben ohne Glühbirne", wies Brigitte Steger, Asienforscherin an der Universität Cambridge, am Beispiel Japan die Ansicht zurück, früher sei der Mensch, dem Rhythmus der Natur folgend, bei Sonnenuntergang schlafen gegangen und bei Sonnenaufgang aufgestanden. Mit 1. Jänner 1873 übernahm Japan - übrigens auch aus budgetären Gründen, weil damit ein Monatsgehalt an die Beamten einzusparen war - den Gregorianischen Kalender und die Einteilung des Volltages in 24 Stunden von gleichlanger Dauer, parallel behielt aber ein Großteil der Gesellschaft noch lange alte Zeitrhythmen bei. Aber nicht nur die Übernahme des westlichen Zeitsystems trieb die Industrialisierung Japans voran. Die Formel "Zeit ist Geld" galt im Land der aufgehenden Sonne wohl schon früher, wie unter anderem ein Text aus dem 17. Jahrhundert zeigt, in dem beklagt wird, wie die Jugend ihre Zeit vergeudet.

Der in Finnland tätige Sprach- und Kulturwissenschafter Harald Haarmann beleuchtete "Entstehung, Entfaltung und Wandel von Sprache(n) in Zeit und Raum".Vor mutmaßlich rund 200.000 Jahren habe sich Sprache entwickelt, und zwar in vier Entwicklungsstufen, von denen primitive Sprachen nicht alle erreicht haben. Heute gibt es rund 6000 verschiedene Sprachen, die größte Vielfalt an Kleinsprachen (von weniger als 1000 Menschen gesprochen) weist Papua-Neuguinea auf.

Den Zeitdruck der modernen Arbeitswelt sprach Christian Korunka von der Universität Wien an. "Wir werden getrieben von den Vorgaben der Systeme", sagte der Arbeitspsychologe, der eine Zunahme psychischer Belastungen ortet. Aus seiner auf Hartmut Rosas Buch "Soziale Beschleunigung" beruhender Sicht befindet sich die heutige Gesellschaft in einem "Akzelerationszirkel", in dem einander drei Faktoren beschleunigen: die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos. Wir erleben, wie der deutsche Philosoph Hermann Lübbe schon 1996 feststellte, "Gegenwartsschrumpfung" und "Zukunftsexpansion": Der Zeitraum einigermaßen konstanter Lebensbedingungen werde kürzer, eine unsichere, undurchschaubare Zukunft rücke näher.

Frage nach Freizeit steht heute vor Frage nach Einkommen

Neue Anforderungen und Arbeitsintensivierung, zeitliche und örtliche Flexibilität und neue Formen der Kommunikation hätten, so Korunka, nicht nur negative, sondern ambivalente Folgen. Es gelte, sich vor Gefahren der Überforderung und des Burnouts zu schützen: "Neue Grenzen in einer entgrenzenden Arbeitswelt können positiv sein." In der jüngeren Generation scheine man das schon zu erkennen, meint Korunka, er kenne schon die Klage von Personalchefs, dass heute die erste Frage von Bewerbern oft nicht mehr dem Gehalt gelte, sondern der Freizeit.