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Wann ist der Mensch krank?

Von Alexandra Grass

Wissen
Befindlichkeitsstörungen sind manchmal vorübergehend, können aber einen Krankheitsprozess einleiten.

Der Übergang von Gesundheit zu Krankheit ist nicht immer ganz klar - auch aus diagnostischer Sicht.


"Die Erforschung der Krankheiten hat so große Fortschritte gemacht, dass es immer schwerer wird, einen Menschen zu finden, der völlig gesund ist." Dieses vom britischen Schriftsteller Aldous Leonard Huxley stammende Zitat hat heute wohl mehr Gültigkeit denn je. Die Daten, mit denen Mediziner Aussagen über unseren Gesundheitszustand treffen wollen, werden immer mehr und immer genauer. Die aufwendige Suche nach Gewissheit und aussagekräftigen Befunden hinterlässt oftmals verunsicherte Patienten - mitunter aber auch verunsicherte Ärzte.

Zudem werden gesundheitsrelevante Zielwerte wie das Cholesterin oder der Blutdruck nach und nach heruntergesetzt. Eine solche Maßnahme vergrößert unmittelbar die Schar der Risikopatienten, die bis dahin als gesund galten. Dabei stellt sich die Frage, ob es nicht gerade zur Stigmatisierung oder Krankmachung beiträgt, wenn man Normwerte - im Urgedanken zum Wohle des Patienten, zeitgleich aber auch zum Wohlgefallen der Pharmaindustrie - senkt.

Zahlen nicht überbewerten

"Man darf die Zahlen nicht überbewerten, sie sind eine Momentaufnahme", beruhigt der Wiener Ganzheitsmediziner und Berater für Komplementärmedizin der Wiener Gebietskrankenkassen Gerhard Hubmann gegenüber der "Wiener Zeitung". Aber Werte, die als pathologisch oder gefährlich einzustufen sind, sollten immer wieder kontrolliert werden, um sich über eine gewisse Zeit ein Bild machen zu können, ob die Belastung zu Krankheit führt oder gar schon ein Krankheitsmuster vorliegt. Allerspätestens dann, wenn subjektive Beschwerden auftreten, habe der Krankheitsprozess bereits begonnen.

Aber genau der Übergang von Gesundheit zu Krankheit ist nicht immer so klar - auch aus diagnostischer Sicht. Oftmals wenden sich Patienten mit unterschiedlichsten, zumeist vorübergehenden Symptomen - etwa Herzrasen, Schwindel oder innerer Unruhe - an ihren Arzt. Obwohl sich der Betroffene in dieser Zeit krank fühlt, lautet die Antwort des Mediziners häufig: "Ihren Werten zufolge sind Sie gesund." Subjektive Befindlichkeitsstörungen ohne ersichtliche Ursache werden dann häufig mit psychischen Belastungen argumentiert. In Folge kommen Antidepressiva oder Tranquilizer zum Einsatz - mit den entsprechenden Nebenwirkungen. Andererseits wiederum können Diagnosewerte einen gefühlt Gesunden mit einem Schlag zum Kranken abstempeln.

Oft seien es auch fließende Übergänge zwischen diesen beiden Zuständen. Doch kann man wirklich von zwei verschiedenen Zuständen sprechen? Hubmann gibt nämlich zu bedenken, dass Gesundheit in jedem Einzelnen wohnt, sie lediglich manchmal von Krankheit verschüttet ist und die Gesundheitsaspekte wieder herausgearbeitet werden müssen. Das mache auch therapeutisch Sinn, nicht nur Krankheit zu vertreiben, sondern zeitgleich die Gesundheit zu fördern.

Auffällig ist auch, dass in der medizinischen Betreuung gemäß dem sogenannten Risikofaktorenmodell nach wie vor mehr Augenmerk darauf gerichtet wird, was krank macht. Dieses Modell der Medizin orientiert sich an der sogenannten Pathogenese, wie es der deutsche Arzt und Buchautor Klaus Jork betont. "Pathos" bedeutet im Griechischen Leiden, "genesis" wiederum Entstehung, Ursprung. Damit wird demnach die Entstehung und Entwicklung einer Erkrankung beschrieben. "Dem Patienten wird mitgeteilt, was bei ihm krank ist, welche Werte bei der Untersuchung von der Norm abweichen, was er unterlassen sollte", schreibt Jork in einem seiner Texte. Die Beratung nach dem Konzept der Pathogenese beruhe vor allem darauf, dem Patienten mitzuteilen, was für die Gesundheit unangemessen ist und was bei Nichtbeachtung krank macht.

Pathogenese vs. Salutogenese

Inwieweit diese Herangehensweise wirklich Sinn macht, darüber hat sich der US-amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky Gedanken gemacht und bereits in den 1980er Jahren den Begriff der Salutogenese ("Salus" heißt Lateinisch Gesundheit, "genero" steht im Griechischen für erzeugen) geprägt. Diesem wurde zuletzt ein immer größerer Stellenwert eingeräumt. Die Fragestellung lautet dabei im Gegensatz zur Pathogenese: Wie entsteht Gesundheit und was erhält mich gesund?

Diese andere Herangehensweise ist vor allem das Wesen der Ganzheitsmedizin, doch der Trend, Gesundheit zu erhalten, wächst auch in der klassischen Schulmedizin. Im vergangenen Herbst hat die Wiener Gebietskrankenkasse mit dem österreichweit einzigartigen Projekt "Individuelles Gesundheitsmanagement" (IGM) gestartet. Seither sind mehr als 300 Versicherte von speziell ausgebildeten Coaches in Sachen Prävention beraten worden. "Wir versuchen, die Menschen am Weg zur Krankheit abzuholen. Denn jeder Mensch hat mehrmals im Leben Phasen, in denen er sich am Weg in die Krankheit befindet. Eine gute Beratung, wie wir sie als Ärzte in der Praxis aus Zeitgründen aber nur schwer bis gar nicht bieten können, kann hier sehr hilfreich sein", betont Projektinitiator Hubmann.

"Bringt man Psyche, Stoffwechsel und Blutdruck mit gezielten Maßnahmen in Harmonie, haben Zivilisationskrankheiten nur eine geringe Chance." Das Ziel müsse es sein, weniger Medikamente zu benötigen oder gar den Punkt der Medikation hinauszuschieben. Hauptaugenmerk in den Beratungen wird daher auf Ernährung, Bewegung, Vermeidung von Schadstoffen und auf seelisch-geistige Entspannung gelegt.

Wenn es um das Thema Krankheit geht, scheinen die Menschen heutzutage auf jeden Fall besorgter zu sein als früher. Vermutlich hat nicht zuletzt - wie in anderen Bereichen auch - die neue Zeit mit ihrem 24 Stunden diensthabendem Dr. Google Einfluss darauf. Schnell lassen sich im Internet über die Eingabe verschiedener Symptome Krankheiten finden, die dem Leidenden scheinbar eine Diagnose liefern. Häufig entsprechen diese Rückschlüsse allerdings nicht der Realität, erzeugen im Betroffenen dennoch ein Gefühl der Angst und Sorge um den eigenen Körper. Nicht selten verstärken sich dadurch die Krankheitssymptome. Doch nicht umsonst existiert das Berufsbild des Arztes mit einer langjährigen Ausbildung. Auch bei einem Wasserschaden im eigenen Haushalt wendet man sich ja für gewöhnlich an den Installateur und nicht an die Neuen Medien.

Einmal jährlich bezahlen die Krankenkassen übrigens eine Vorsorgeuntersuchung beim Arzt. Dabei wird dem Patienten von der Blutdruckmessung bis zur Blutuntersuchung ein reiches Spektrum geboten. Hubmann plädiert dabei für eine ganzheitliche Gesundheitsvorsorge mit einer erweiterten Laboruntersuchung und einer Austestung auf Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten. Denn Magen-Darm-Beschwerden seien aufgrund von Allergien und Intoleranzen im Steigen. Beherrsche ein Arzt auch Diagnostikmethoden über Ohr, Handfläche, Puls, Zunge, Fußreflexzonen oder Mimik, habe man zusätzlich einen Vorteil gegenüber der herkömmlichen Methodik, betont der Mediziner.

Status der Österreicher

Stellt sich noch die Frage: Wie krank bzw. gesund ist Österreich? Hier finden sich Antworten im "Europäischen Gesundheitsbericht 2015". Als Hauptrisikofaktoren für den vorzeitigen Tod, vor allem durch Herzkreislauferkrankungen und Krebs, gelten der Tabak- und Alkoholkonsum sowie Übergewicht und Adipositas. Beim Alkohol ist Österreich mit rund 12,1 Litern pro Kopf immerhin in der Spitzengruppe vertreten. Beim Übergewicht der Menschen ab 18 Jahren liegt Österreich mit 53,1 Prozent im Vergleich zu den anderen 50 Staaten relativ gut. Dass die Tendenz jedoch nach oben zeigt, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Der Präventionsmedizin und damit der Gesunderhaltung sollte daher ein noch größerer Stellenwert als bisher eingeräumt werden.