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Archive des Lebens

Von Eva Stanzl

Wissen
Moderne Biobanken-Forschung in China, Pflanzensamen-Sammlung in Sankt Petersburg. Fotos: filmdelights

Der am Donnerstag startende Film "Goldene Gene" erhellt die Debatte um Biobanken für Proben von Menschen, Tieren und Pflanzen.


Marketing ist so eine Sache. Es kann witzig sein oder informativ, viel öfter aber ist es lästig. Und nicht nur das. Die Marekting-Maschinerie von Hollywood bedroht nämlich sogar die Artenvielfalt, berichtete die deutsche "Zeit" zum Kinostart des Disney-Zeichentrickfilms "Findet Dorie". Nach dem Abspann würden sich Kinder nicht nur T-Shirts, Kappen und Taschen mit Porträts des fürchterlich vergesslichen Paletten-Doktorfisches wünschen, sondern auch echte Dories. Diese müssten allerdings erst aus der See geholt werden.

Der azurblaue tropische Kiementräger lebt in den Meeren Südostasiens. In der Natur pflanzt er sich nur fort, wenn die Umstände günstig sind, in Gefangenschaft vermehrt er sich nicht. Da der Handel keine für Meerwasseraquarien gezüchteten Doktorfische anbieten kann, befürchten Experten eine Dezimierung der Population durch von Hollywood inspirierte Aquarianer. Relativ zur Zahl dieser Wasserbewohner drohe eine Überfischung ähnlich wie bei dem Speisefisch Kabeljau.

Doch nicht nur die Nachfrage durch den Menschen verringert den biologischen Reichtum des Lebens, sondern auch Klimawandel, Wetterextreme wie Hurrican Matthew (derzeit an der US-Ostküste), politische Konflikte und nicht zuletzt Akte des Terrors. So sehen es Forscher am Svalbard Global Seed Vault im norwegischen Spitzbergen. Unter dem verschneiten Boden der eisigen Inselgruppe im Nordatlantik steht seit 2008 der weltgrößte Speicher für Kultursamen. Er dient als Sicherungskopie für die wichtigsten Pflanzenarten. Als eine ähnliche Sammlung bei kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien vernichtet wurde, wurde sie jüngst akut gebraucht. Die Forscher reisten nach Spitzbergen, um ihre Back-ups aus dem Tresor zu holen, mit denen sie ihre Bestände neu aufbauen wollen.

4,5 Millionen Samenproben

"Als wir sahen, dass überall Katastrophen stattfinden - Wirbelstürme, die ganze Städte überfluten, oder auch 9/11 -, wurde uns klar, dass keine Pflanzensamenbank auf der Welt sicher ist", erklärt Mitbegründer Cary Fowler vom Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt: "Nach jeder Umweltkatstrophe fragte man: Wussten die Experten denn nicht, dass das passieren würde? Warum haben nichts getan? Mir wurde bewusst, dass mit Experten ich gemeint bin. Also begannen wir, zu arbeiten, um die Vielfalt zu retten", sagt Fowler. Bis zu 4,5 Millionen Samenproben sollen in dem abgelegenen Bunker bei minus 18 Grad eingelagert werden, der nach Abschluss der Arbeiten wie eine Arche Noah im ewigen Eis der sicheren Verwahrung von Saatgut-Kopien dienen soll. An den Errichtungskosten beteiligten sich die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die Rockefeller Foundation, der Staat Norwegen und Pflanzensamen-Konzerne.

Fowler ist einer von 15 Wissenschaftern, die die Wiener Filmemacher Ursula Hansbauer, Wolfgang Konrad und Clemens Stachel rund um den Globus besucht haben - von Spitzbergen über China bis nach Deutschland, England, Frankreich und Österreich. Ihre von der öffentlichen Hand finanzierte Dokumentation "Goldene Gene" hat am Donnerstag im Filmcasino Wien Premiere.

Die Forscher-Interviews faszinieren, die kunstvoll gewählten Kameraeinstellungen gewähren Denkpausen und nisten sich im Gedächtnis ein. Und die Kombination schafft eine fesselnde Grundlage zum Thema Biobanken - die modernen Archive des Lebens. "Es begann mit einer Ausstellung zu Pflanzensamen, das Thema beschäftigt mich seit 20 Jahren", sagt Clemens Stachel. Entsprechend in die Tiefe geht die Doku.

Der russische Botaniker und Genetiker Nikolai Wawilow hatte in den 1920er Jahren die Idee von geografischen Genzentren der Kulturpflanzen. Auf Forschungsreisen sammelte er Samen, die der Grundstock der heute nach ihm benannten Genbank in Sankt Petersburg wurden. Während botanische Gärten in Deutschland oder Großbritannien Orchideen und exotische Schmuckpflanzen aufbewahrten, lagern in Sankt Petersburg lokale und globale Nutzpflanzen in kleinen, feinsäuberlich beschrifteten Schachteln.

Speicher als Zeitkapsel

"Wawilow entdeckte, dass der Herkunftsort der Samen die größte Diversität aufweist", berichten die Filmautoren: "Sein Traum war ein weltweit vernetzter genetischer Speicher, der wie eine Zeitkapsel die Jahre überdauert." Die Vision bleibt umstritten, wird jedoch nach und nach umgesetzt. Seit der US-Genetiker Craig Venter 2003 das menschliche Genom sequenziert hat, ist die Zahl der Biobanken explodiert. Allein in Europa gibt es deren etwa 450 - die größte in Großbritannien mit einer halben Million Probanden. Hier lagern nicht nur Samen, sondern auch Speichel-, Blut- Plasma-, Urin- und Zellproben, Hirn- und Follikelflüssigkeit von Menschen und Tieren, sowie Pflanzen und Bakterien in großen Tanks bei Minusgraden.

Hauchdünn geschnitten, auf Glasplatten fixiert - so werden Gewebe in pathologischen Sammlungen geschlichtet und auf Krankheiten untersucht. Die DNA fügt eine Dimension hinzu. Sie ermöglicht Biobanken wie jene an der Medizin-Uni Graz. "Wir wollen nicht nur den Aufbau von Geweben untersuchen, sondern auch DNA-Sequenzen, Gen-Aktivitäten und Proteine analysieren", sagt der Pathologe Kurt Zatloukal, Direktor des europäischen Biobanken-Netzwerks BBMRI in Graz. Und mehr: Man will das Buch des Lebens lesen.

"Der genetische Code ist bei allen Lebewesen nach den gleichen Prinzipien aufgebaut", erklärt die Zoologin Ann Fowler, Gründerin der britischen Biobank Frozen Ark: "Es ist der Barcode des Lebens, und wir lernen, das Scriptum immer besser zu lesen. Möglicherweise können wir irgend wann ausgestorbene Lebewesen wieder auferstehen lassen." Eine Art Stein von Rosette, der der Schlüssel zum Verständnis der Hieroglyphen ist, haben die Forscher jedoch noch nicht gefunden. Derzeit kennen sie nur einzelne Seiten eines "Buches", das auf wundersame Art und Weise immer dicker zu werden scheint, je intensiver sie es zu lesen versuchen. Heutige Herangehensweisen widerlegen nämlich die Annahmen Carl von Linnés, der die botanische und zoologische Taxonomie begründete, wodurch sie verwirrender sind. "Linné wollte viele Arten erfassen, hielt sie jedoch für gottgegebene, stabile Kategorien. Die Vielfalt zwischen den Exemplaren war für ihn uninteressant", erklärt Pierre-Henri Gouyon, Evolutionsbiologe am Naturhistorischen Museum Paris: "Heute wissen wir, dass Biodiversität dynamisch ist."

Der Eisberg der Erkenntnis

Reispflanzen, Schafe, Menschen: Auf dem Feld, in der Herde und in der Masse sehen sie von der Ferne alle gleich aus. Doch je näher man kommt, desto stärker unterscheiden sich die Individuen. "Je mehr Organismen es gibt, desto größer müssen die Biobanken sein, nur damit wir die Spitze des Eisberges erreichen", sagt Mikrobiologin Christa Schleper von der Universität Wien.

Dieser Eisberg der Erkenntnis ist schwer abzutragen, fasst Regisseur Christian Stachel zusammen: "Hinter jeder Entdeckung dieses Forschungszweigs stehen hunderte weitere verschlossene Türen." Die einen Forscher zweifeln am Sinn immer größerer Sammlungen und versuchen, einen breiteren Blick auf ihr Forschungsfeld zu gewinnen - die anderen sammeln immer ehrgeiziger im Glauben, dass sich die Wahrheit in schierer Menge offenbart. So wie der Evolutionsbiologe Ruaraidh Hamilton: "Wir wollen wissen, welche Gene das Überleben garantieren."

Die Frage ist, ob die Menge im Verhältnis zur Erkenntnis steht, stellt der Film in den Raum. Womöglich tut sie es nicht. Oder vielleicht können wir auch mit der Antwort nichts anfangen. So wie die Protagonisten in Douglas Adams’ Romanreihe "Per Anhalter durch die Galaxis", wo sie einfach nur "42" lautet. Recht sicher sind aber schon heute irgendwo auch die Proben eines Paletten-Doktorfisches eingelagert.

"Goldene Gene":

Österreich-Premiere im Filmcasino Wien, 6. Oktober, 20.15 Uhr (öffentliche Veranstaltung)

Kinostart 7. Oktober, Top Kino Wien 19.00 Uhr in Anwesenheit der Filmemacher/innen

Vorstellungen am 8.10., 18.00 Uhr 9.10., 13.00 Uhr 10.10., 18.00 Uhr

11.10., 18.00 Uhr 12.10., 18.00 Uhr 13.10., 18.00 Uhr

www.goldengenes.net