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"Identität ist bloß eine Krücke"

Von Andrea Roedig

Wissen

Unterschiede müssen wir machen, Identitäten festlegen aber nicht, meint der deutsche Soziologe Stefan Hirschauer. Über Kleeblattelternschaften, Gender Studies und eine mögliche "Politik der Indifferenz."


Wien. Vergangene Woche hat in Österreich erstmals ein schwules Paar ein Kind adoptieren können. Nach der Aufhebung des Adoptionsverbots für Homosexuelle mit Jänner 2016 hatten die beiden Männer für ihr Pflegekind, das schon seit sechs Jahren bei ihnen lebt, die rechtliche Elternschaft beantragt. Mit der Gleichstellung von Homosexuellen wandelt sich die Vorstellung von Familie, denn deren Bedeutung ist nicht von der Natur festgeschrieben, sondern durch die Gesellschaft. Sie erschafft Identitäten, indem sie Unterscheidungen trifft und festlegt, wer etwa heiraten darf oder Kinder adoptieren. Das ist ein nicht nur aktuell umstrittenes Feld. Doch entwickelte demokratische Gesellschaften müssen ein hohes Maß an Komplexität aushalten können, erläutert der deutsche Soziologe Stefan Hirschauer, der zum Thema geschlechtsgleiche Elternschaften forscht.

"Wiener Zeitung": "Herr Professor Hirschauer", in dieser Anrede stecken zwei Aussagen: Dass Sie ein Akademiker mit hohem Abschlussgrad sind und ein männliches Wesen. Ist das Ihre Identität?Stefan Hirschauer: Auf keinen Fall würde ich von Identität sprechen, denn das ist eine schlimme konzeptuelle Krankheit, inklusive der damit verbundenen Politik. Ich bin auch eher irritiert, wenn mich Studierende als "Herr Professor" anschreiben, und fordere sie explizit dazu auf, sich etwas anderes einfallen zu lassen, etwa Hallo Hirschauer, Hallo Prof oder sonst etwas.

Warum ist es schlecht, von Identität zu sprechen?

Identität ist der verhärtete Aggregatzustand eines Selbstverständnisses, das insbesondere in politischen Kämpfen entsteht, das heißt unter Profilierungsdruck. Für viele, wie zum Beispiel Schwule vor dem Coming-out, ist das eine gute Krücke, die man aber nicht für den Normalfall halten sollte. Der Punkt ist, dass die meisten sogenannten Normalen aus guten Gründen den Luxus genießen, nicht-identitär zu leben.

Ihr Forschungsprojekt operiert mit dem etwas sperrig klingenden Wort "Humandifferenzierung". Was ist damit gemeint: Dass Menschen unterscheiden oder dass Menschen von anderen unterschieden werden?

Beides. Menschen machen sinnhafte Unterscheidungen zwischen allem Möglichen, zwischen Krankheiten, Tieren, Pflanzen. Aber die spannendsten Unterscheidungen sind natürlich diejenigen, die die Unterscheider selbst mit sich veranstalten. Pierre Bourdieu nannte das die "Klassifikation der Klassifizierer."

Warum ist es so wichtig, auf das Differenzieren, also das "Unterschied machen" zu fokussieren?

Für alle Menschen existiert die Welt immer nur geordnet durch Wissenssysteme, und Wissenssysteme hängen an Unterscheidungen. Unterscheidungen produzieren Sinn. Während die Naturwissenschaften Dinge brauchen, die sie messen können, also mit Unterschieden arbeiten - etwa Darwin und seine Tierarten auf den Galapagosinseln -, ticken die Kulturwissenschaften anders: Sie schauen auf die sinnhaften Unterscheidungen, die man so oder anders ziehen kann. Relevant für unsere Forschung ist außerdem, dass jede Unterscheidung auch etwas gleichmacht. Wenn ich die Schwarzen und die Weißen unterscheide, habe ich implizit behauptet, dass "die Weißen" eine homogene Menge seien, oder "die Frauen" und "die Männer".

Unterscheidungen werden nicht nur gemacht, sondern auch wieder aufgehoben, das "undoing differences" ist Ihnen wichtig. Welchen Bereich finden Sie da besonders fruchtbar?

Ich arbeite im Bereich der Gender Studies, und die moderne Gesellschaft kennt starke Institutionen, die uns dazu auffordern, von Geschlecht abzusehen - etwa in der Schule oder vor Gericht. Sehr wichtig ist die Unterscheidung aber noch im Privatleben. Aber auch dort tut sich viel. Im Rahmen unseres Forschungsprojekts beschäftige ich mich mit geschlechtsgleichen Elternschaften. Da werden zum Beispiel "Kleeblattelternschaften" erfunden mit zwei Schwulen und zwei Lesben, oder "triadische Elternschaften" mit einer Art onkelhafter Rolle des Samenspenders. Mein Team hat kürzlich zwei Frauen interviewt, die sich die Schwangerschaft körperlich aufteilen - die eine spendet die Eizelle, die andere trägt das Kind aus. Es gibt viele Varianten, in denen Elternschaft neu erfunden wird. Die neuen Lebensformen, die sich da entwickeln, finde ich faszinierend und persönlich viel interessanter als die technische Entwicklung in der Reproduktionsmedizin. Es findet eine Revolution der Familie statt, und ich habe das Gefühl, "am Puls der Zeit" zu sitzen.

Den Gender Studies oder auch den Race Studies wird oft vorgeworfen, dass sie genau jene Kategorien festschreiben, die sie eigentlich abschaffen wollen, weil sie sie immer wieder thematisieren. Was würden Sie diesen Disziplinen raten?

Löst euch auf! Nein, ernsthaft: Es kommt drauf an, wie man diese Wissenschaften betreibt. Ich denke, dass eine gewisse Spezialisierung sinnvoll ist. Wenn sie aber zu stark und vor allem nach politischen Maßgaben betrieben wird, erzeugt sie Schäden, Kontaktabbrüche und Bornierungen. Geschlecht ist ein hochgradig interessanter Fall sozialer Klassifikation. Daher sollte, was in den Gender Studies herausgefunden wurde, in viele andere Felder eingespeist werden und umgekehrt. Erst dann kann man sehen, was Geschlecht ist. Man kann das Phänomen nicht aus der Genderperspektive allein verstehen.

Mit der Frage "Welche Differenz ist wo und wann in Kraft?" begeben sie sich auf eine Metaebene der Beobachtung. Gibt es nicht auch politische Implikationen Ihrer Forschung? Im Moment sind Integration und Migration brennende Themen.

Ich denke darüber nach, was eine "Politik der Indifferenz" bedeuten könnte, in Abgrenzung zur "Identitätspolitik". Das wäre nicht eine Politik der Anerkennung von Differenz, sondern eine Politik der Absehung von Differenz. Hochgradig interessant am Migrationsphänomen finde ich, dass Vorstellungen von Ethnizität, geografischer Herkunft und Nationalität in den Zuwanderern sozusagen "verschmieren". Zugehörigkeiten werden hybride, und ich denke, dass das auf eine ähnliche Weise auch bei der Geschlechterdifferenz stattfindet - etwa mit Androgynie, Genderbending, Rollennivellierung - oder bei der Religiosität im Eklektizismus.

Würden Sie sagen, dass man ohne Differenzierungen leben könnte?

Nein, man sollte sich nicht einbilden, dass es ein stereotypenfreies Leben geben könnte, Schemata werden immer eine Rolle spielen, die Frage ist nur: welche und in welchem Ausmaß? Das hängt auch davon ab, wie hoch unsere Fähigkeit ist, Komplexität zu verarbeiten. Können wir damit leben, dass wir Geschlecht nicht sofort zuschreiben? Wie hoch ist unsere Ambiguitätstoleranz? Insofern meint Politik der Indifferenz nicht: "Schleift nieder die kulturellen Differenzen". Es geht eher um den Moment des Innehaltens, in dem ich nicht wissen muss, was jemand ist und ob etwas gut oder schlecht ist. Für eine politisierte Weltanschauung ist das schwer auszuhalten, für das Zusammenleben wird es immer unverzichtbarer.

Welche heute noch wichtigen Unterschiede werden in der Zukunft keine Rolle mehr spielen?

Prognosen sind ausgesprochen schwierig, aber ich denke, dass Gender als Unterscheidungskriterium auf dem absteigenden Ast ist. Alter hingegen wird wahrscheinlich eine zunehmende Rolle spielen, etwa weil die Medienentwicklung die Generationen auseinandertreibt. Durch Migrationsbewegungen wird Ethnizität hochgespielt werden, die Bedeutung nationalstaatlicher Unterschiede dagegen wird geringer. Aber natürlich kommt es auf die Weltregion an, die Sie betrachten. Außerdem laufen diese Entwicklungen nie linear ab, es gibt immer auch temporär rückläufige Prozesse.

Zur Person

Stefan
Hirschauer

geboren 1960, ist Professor für Soziologie an der Uni Mainz. Zuletzt hielt er an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften den Auftaktvortrag zur Reihe "Lectures in Gender and Diversity".