
Boston/Wien. (gral) Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms um die Jahrtausendwende öffneten Genetiker neuen Therapiewegen Tür und Tor. Damit wurde es möglich, genetische Charakteristika einzelner Patienten herauszufiltern. Molekularbiologische Befunde sind heute für die individuelle Therapieentscheidung bei Krankheiten - wie zum Beispiel Krebs - von großer Bedeutung. Der Begriff der personalisierten Medizin ist damit heute kein sagenumwobener mehr, sondern Realität. Der technologische Fortschritt wird wohl in den kommenden Jahren die Möglichkeiten vervielfachen und zu einer Revolution bei der Diagnose und Behandlung all jener Erkrankungen führen, für die keine einfachen Therapieschemata gelten.
"Die personalisierte Medizin wird nicht nur dem einzelnen Patienten helfen. Sie wird den Gesundheitszustand insgesamt verbessern. Und sie wird Kosten sparen helfen", betonte William Dalton, ehemaliger Leiter eines Comprehensive Cancer Center in den USA und Ex-Dekan des Arizona College of Medicine" bei der zuletzt in Boston stattgefundenen Jahreskonferenz der US-Vereinigung für personalisierte Medizin.
Onkologie an erster Stelle
An erster Stelle bei der personalisierten Medizin steht seit Jahren die Onkologie. So geht man davon aus, dass bei 73 Prozent der Melanomerkrankungen in den Krebszellen Mutationen vorliegen, die mit speziell dagegen gerichteten Mitteln behandelt werden könnten. Bei Dickdarmkrebs ist das bei 51 Prozent der Patienten der Fall, bei Lungen und Bauchspeicheldrüsenkrebs bei 41 Prozent.
Der monoklonale Antikörper Herceptin hat vor rund 15 Jahren als erstes zielgerichtetes Arzneimittel die medikamentöse Therapie von sogenanntem HER2-positivem Brustkrebs revolutioniert. Rund 20 Prozent der Frauen, die am Mammakarzinom erkranken, weisen solche spezifischen Tumore auf. "2008 hatten wir erst fünf zielgerichtete Medikamente und die entsprechenden Tests dafür. 2010 waren es 81, im Jahr 2014 dann 106 und 2016 sind es 135", betonte Edward Abrahams von der US-Initiative zur Förderung der personalisierten Therapieform.
Neben Krebs werden voraussichtlich auch andere Anwendungsgebiete hinzukommen. Schon vor Jahren hätten Wissenschafter errechnet, dass Antidepressiva bei 38 Prozent der Therapierten keine Wirkung zeigen. Bei Asthmamitteln und Medikamenten gegen Typ-2-Diabetes liege dieser Anteil bei etwa 40 Prozent, bei Arzneien gegen Gelenksrheuma bei 50 Prozent und bei Krebsmedikamenten bei 75 Prozent, betonte Michael Pellini vom Unternehmen Foundation Medicine. Könnte man auf verlässlicher objektiver Basis vorhersagen, welcher Patient auf ein Medikament ansprechen wird, müssten sich die Erfolgsraten deutlich erhöhen lassen. Gleichzeitig müsste auch der Anteil an unwirksamen Therapien sinken.
Ziele sind zu identifizieren
Um das erreichen zu können, müssen sogenannte Targets (Ziele) identifiziert werden, an denen Medikamente bei einer spezifischen Krankheitsform ansetzen können. Was beim Brustkrebs etwa das Vorhandensein von Hormonrezeptoren oder HER2-Strukturen auf der Oberfläche der Tumorzellen ist, kann beim nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom eine Mutation im EGFR-Gen sein. Solche Mutationen können aber auch bei Krebserkrankungen verschiedener Organe vorhanden sein. So gibt es etwa auch HER2-positiven Magenkrebs oder EGFR-Mutationen beim Dickdarmkarzinom. Damit verlieren die klassischen Organ-spezifischen Einteilungen von Krebserkrankungen teilweise ihre Bedeutung.
Die Zeit, in der Kranke nach den Durchschnittsergebnissen aus klinischen Studien mit tausenden Patienten behandelt werden, dürfte sich zunehmend dem Ende zuneigen. Denn die personalisierte Medizin hilft, die richtige Therapie auf der Basis objektiver Laborbefunde des Einzelnen zum richtigen Zeitpunkt zu verabreichen. Was einfach klingt, bedarf allerdings noch weiterer Forschungsarbeit. Die Identifizierung der Targets stellt die Molekularbiologie nach wie vor vor große Herausforderungen. Zwar sind bereits einige solcher Ziele bekannt und auch passende Medikamente, aber der Pool an Möglichkeiten ist nicht enden wollend.