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Die Logik der meisten "Likes"

Von Eva Stanzl

Wissen
Paparazzi in eigener Sache : "Generation Selfie" besteht größtenteils aus jungen Menschen.
© selfiecity.net

Selfies und Selbstvermarktung online: Forscher erwarten, dass sich ein sinnvoller Umgang mit sozialen Medien einpendeln wird.


Wien. "Machen Sie ihr van der selfie!: Egal wo, egal wann, ein Selfie mit Alexander Van der Bellen ist ab jetzt immer möglich." Diesen Wahlkampfgag bietet das Team des Kandidaten auf seiner Website an. "Sie können aus sechs verschiedenen Motiven des Präsidentschaftskandidaten wählen: staatsmännisch, hemdsärmelig, beim Wandern oder im Tiroler Kaunertal." Zu sehen sind Beispiele von Fotomontagen, die Van-der-Bellen-Fans mit ihrem Wunschpräsidenten "in Szene" setzen. Zwar erinnern die Bilder ein bisschen an Porträts mit Pappkamerad und der Effekt hat etwas von einem Steckdenkopfdurchfoto, aber die Sache hat Schmäh. Ob sie erfolgreich ist, wird sich am 4. Dezember weisen. Schon jetzt aber verdeutlicht sie die Funktion fotografischer Selbstporträts im Wandel.

Früher türmten sich Schüler in Passfoto-Automaten, um ihre Köpfe briefmarkengroß zu verewigen. Jede/r auf dem Foto behielt ein oder zwei der lustigen Gruppen-Passbilder, steckte sie ein oder klebte sie zur Erinnerung daheim an die Wand. Heute fotografieren wir uns selbst mit oder ohne Freunde, Kollegen oder berühmte Gesellschaft von zu Hause oder von unterwegs mit dem Zweck, die Bilder zu veröffentlichen. Was immer wir tun, denken oder gerade darstellen wollen, gilt es zu dokumentieren und im Netz mit Freunden, Bekannten und der Welt zu teilen.

"Wir alle sind unterwegs als Paparazzi in eigener Sache", betonte der Herausgeber des Jugendmagazins "Xing", Bernhard Seyringer, einleitend zum "Science Talk" des Wissenschaftsministeriums am Montagabend in Wien zum Thema der "Generation Selfie". Diese setzt sich größtenteils aus jungen Menschen im Alter von 22,7 bis 25 Jahren und aus mehr Frauen als Männern zusammen, wie eine Instagram-Analyse von Forschern um den US-Informatiker Lev Manovich zeigt. "Selfiecity" heißt das datengetriebene Projekt, für das mit dem Handy aufgenommene Selbstporträts gesammelt wurden, um zu analysieren, wie eine Stadtbevölkerung in die Linse schaut. Das Resultat sind fünf "Stadtporträts", die mit je 640 Aufnahmen an den Oberflächen von Bangkok, Berlin, Moskau, New York und Sao Paolo schürfen. Die Bilder zeigen, dass Selfies sogar nationale Muster haben: Etwa fotografieren sich die Moskowiten öfter als die Einwohner anderer Städte, lächeln dabei aber seltener als Selbstporträtisten in Bangkok oder in Sao Paolo.

Und was tun mit diesem Wissen? Zunächst einmal es unter die Lupe nehmen, um zu schauen, ob nicht doch mehr dahintersteckt. Es steckt: "Früher verfolgten junge Menschen in ihrer Selbstdarstellung eine provokante Ästhetik. Heute hingegen arrangieren sie sich mit den Normen und arbeiten an der Selbst-Vermarktung", sagte Beate Großegger, wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Jugendkulturforschung in Wien.

Weder Narzissmus noch Porträt

"Auch das Erleben hat sich verändert: Es zählt weniger die intensiv- unmittelbare Erfahrung als das online vermittelte Erlebnis", so Großegger. Mit Narzissmus habe das aber nichts zu tun, betonte der Psychoanalytiker Nestor Kapusta von der Medizinuni Wien. Während Narzissten sich stets auf sich selbst beziehen, beachten Selfie-Knipser auch andere. Ich bin ich selbst im Spiegel meiner Mitmenschen, könnte man sagen, oder: Die "Generation Selfie" will sich in Bildern mitteilen und sich durch die Reaktionen der anderen erfahren. Kapustas Fazit: "Das ist nicht pathologisch, sondern gesund."

Erste Selbstbildnisse soll es bereits in der Antike gegeben haben - etwa soll sich der griechische Bildhauer Phidias auf dem Schild seiner Statue der Athena Parthenos verewigt haben. Seit der Renaissance setzen sich Künstler in Selbstporträts Denkmäler. Dabei geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Physiognomie, den eigenen Stimmungen und der Vergänglichkeit. "Selfies setzen weniger die Tradition des Selbstporträts fort als eine Möglichkeit zur schnellen Bild-Kommunikation in den geselligen Medien, wie Social Media richtig übersetzt heißen müssten, zu bieten", stellte die Medienkulturforscherin Petra Missomelius von der Uni Innsbruck klar. Einerseits bieten die geselligen Medien neue Möglichkeiten, Informationen über sich einem potenziell riesigen Publikum zugänglich zu machen, "andererseits sind sie in ökonomische Interessen eingebunden". Denn auf Instagram, Facebook oder Snapchat gibt man Daten an dahinterstehende Unternehmen weiter, die eigene Interessen verfolgen. Aus dieser Janusköpfigkeit des Internets ergebe sich ein Trend, der auch ein Zwang ist, nämlich das Streben nach Selbstvermarktung und Bonuspunkt-Management in allen Lebenslagen. Nicht zuletzt damit junge Menschen die neuen Möglichkeiten tatsächlich als Chance nutzen können, plädiert Missomelius für ein "Schulfach Medienkunde", das die Anwenderkompetenz um eine gesunde Einschätzung der Logik der Konsequenzen bereichert.

Glaubt man manchen Meinungsmachern, steht ein Abdriften großer Bevölkerungsschichten in eine "Selfie-Sucht" oder einen "Social Media-Wahn" bevor und vor allem die Jugend wäre den Verlockungen des Mitmach-Internets ausgeliefert. Die Experten sahen diese Gefahr nicht. Weder die totale Unterwerfung unter jene Logik, die die meisten "Likes" verspricht, noch der Rückzug von der Bühne der Social Media werden demnach künftig das Handeln online bestimmen. Vielmehr könnte sich ein sinnvoller Umgang mit den Neuen Medien einpendeln, der derzeit ausverhandelt werde. Schon als das Fernsehen im Mainstream ankam, hätten manche den gesellschaftlichen Untergang prophezeit. Angesichts dessen, dass der Umgang damit erlernt wurde, plädierte Missomelius auch jetzt für "mehr Gelassenheit". Ob es denn auch die Leser der Schlagzeile "Todesgrund" so sehen, ist eine Frage. "Seit März 2014 starben 127 Menschen durch Selfies", berichtet die "Computerwoche" unter Bezug auf eine US-Studie der Cornell Universität. Die Fotografen übersahen demnach zumeist Abgründe und stürzten in die Tiefe.