Föten haben heute größere Köpfe. - © GettyImages/angelhell
Föten haben heute größere Köpfe. - © GettyImages/angelhell

Wien. (gral) Im Laufe der Evolution haben sich beim modernen Menschen spannende Veränderungen vollzogen. Nicht alle sind von Vorteil. So ist etwa im Laufe der Zeit aufgrund fehlender mechanischer Reize der Kauapparat verkümmert. In Zeiten von Fast Food ist ein breites, kräftiges Gebiss kein Muss mehr. Daraus folgt, dass es bei Kinder zu immer mehr Zahnfehlstellungen kommt. Auch die Stärke der Knochen an sich hat abgenommen. Angesichts der Tatsache, dass heute immer mehr Menschen mehr Gewicht als früher auf die Waage bringen, fast ein Absurdum. Und da wäre noch ein weiterer Aspekt, bei dem sich die Evolution bisher ziemlich verschätzt hat. So wurden mit der Zeit nämlich - nicht zuletzt aufgrund wachsender Gehirne - die Köpfe größer, das Becken der Frauen blieb dennoch schmal. Für Gebärende ist das eine harte Nuss. Die moderne Medizin dürfte massiv dazu beitragen.

30 Prozent Kaiserschnitte

Heute bringt in Österreich jede dritte Frau ihr Kind per Kaiserschnitt zur Welt. In Brasilien ist es sogar mehr als jede zweite. Nicht immer ist eine Sectio medizinisch notwendig, aber offenbar doch immer öfter, wissen Evolutionsbiologen an der Universität Wien. Seit den 1960er Jahren seien nämlich die "echten" Geburtsprobleme im Steigen, schreiben sie im Fachblatt "Pnas". In einem mathematischen Modell zeigt der Evolutionsbiologe Philipp Mitteröcker vom Department für Theoretische Biologie an der Uni Wien, dass die Anzahl an Frauen mit zu schmalem Becken relativ zur Größe des Fötus zunimmt - und damit auch in Folge die Rate an potenziellen Geburtsproblemen.

Dass Menschen überhaupt solche Schwierigkeiten haben, sei ein evolutionärer Sonderfall. "Eigentlich müssten Gene, die für zu schmale Becken und/oder zu große Föten sorgen, längst ausgestorben sein, da Frauen mit einer solchen Veranlagung früher selten die Geburt überlebt haben", heißt es in einer Mitteilung der Hochschule. Die Forschung vermutet den Anfang aller Geburtsprobleme darin, dass der Mensch aufrecht zu gehen begann und dadurch ein schmales Becken entwickelte, lange bevor sein überdurchschnittlich großes Gehirn evolvierte.

Mitteröcker ortet hier eine Art "Fitness-Dilemma". Denn "aus evolutionärer Sicht ist ein schlankeres Becken von Vorteil. Einerseits für unsere Fortbewegung, aber auch, weil es bei sehr breiten Becken bei der Geburt zum Gebärmuttervorfall kommen kann", beschreibt der Wissenschafter die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite erhöhen sich die Überlebenschancen eines Babys, je größer es bei der Geburt ist. Hier kommen sich also der Selektionsdruck hin zu schmaleren Becken und jener hin zu größeren Babys also in die Quere.

Fatale Fitnesskurve

"Für unsere Fitnesskurve heißt das: Je schmäler das Becken und größer das Kind, umso besser - aber eben nur bis zu dem Punkt, an dem das Kind nicht mehr durchpasst: Dann wird es abrupt fatal", so der Experte. Diesen Punkt markiert die sogenannte "Fitnessklippe" im populationsgenetisch-mathematischen Modell der Forscher. Sie hat sich seit regelmäßiger Anwendung des Kaiserschnitts deutlich verschoben. "Da wir am Becken-Kopf-Missverhältnis nicht mehr sterben, werden die Becken schmäler und natürliche Geburten tendenziell problematischer."

Selektionsdruck gestürzt

Bis in die 1950er Jahre hinein endete eine Geburt noch für bis zu sechs Prozent der Kinder und Frauen in Europa tödlich. Die moderne Medizin schaffte in den letzten Jahrzehnten neue Möglichkeiten. Begonnen von geburtsunterstützenden Maßnahmen wie der Saugglocke über den Kaiserschnitt bis hin zu den wesentlich höheren Überlebenschancen für Frühchen. Damit habe die moderne Medizin den Selektionsdruck hin zu einem breiteren Becken praktisch zu Fall gebracht, urteilen die Forscher.

So weit, dass Frauen in mehreren Generationen nicht mehr natürlich gebären können, wird es laut Meinung der Evolutionsbiologen aber nicht kommen. Betrachtet man die metabolische Kapazität der Mutter, sei es nämlich nicht möglich, dass ein Kind ewig größer werde. Mit ihrer Arbeit haben die Forscher erstmals beschrieben, wie die Medizin im Laufe der Evolution verändert - und auch wie schnell. "Wir konnten zeigen, dass die Zunahme der Kaiserschnitte zwar ein soziales Phänomen ist, aber nicht nur: Die Geburtsproblematik hat zugenommen, wenngleich in einem viel geringeren Ausmaß als die Kaiserschnitte."