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Hirsch, Nashorn oder doch Mammut?

Von Roland Knauer

Wissen
Die Neandertaler jagten sehr unterschiedliche Tiere.
© Fotolia/nicolasprimola

Neandertaler lebten und ernährten sich erstaunlich flexibel.


Berlin. Unten im Tal jagten die Neandertaler gerne Pferde und Nashörner im Wald. Schließlich brachte dort die Rhone den Bäumen das ganze Jahr über genug Wasser, das der Fluss aus den Alpen noch heute in den Süden Frankreichs in die Nähe von Valence trägt. Hoch über dem Tal reichten auf einer Ebene die Niederschläge vor 250.000 Jahren wohl genau wie heute nur noch für ein Buschland aus, das im Mittelmeerraum als "Macchie" bezeichnet wird. Die Neandertaler lebten damals ungefähr in der Mitte zwischen beiden Landschaften - und scherten sich wenig um die Unterschiede.

"Jedenfalls jagte eine andere Gruppe meist auf der Ebene", erklärt Hervé Bocherens vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Uni Tübingen. Bei ihnen standen daher häufig die dort lebenden Hirsche und Büffel auf der Speisekarte. Auf den ersten Blick mögen solche Unterschiede banal wirken. Schließlich kommt auch bei heutigen Menschen unterschiedliches Essen auf den Tisch. Während die einen Schweinsbraten vorziehen, lieben die Nachbarn es vegetarisch. Nur argwöhnten viele Forscher bisher, dass die Neandertaler weit weniger flexibel als die modernen Menschen waren.

Isotope als Grundlage

Genau diese Annahme entlarvt das Team um Bocherens im Fachblatt "Quaternary Science Reviews" als falsch: "Die Neandertaler waren uns viel ähnlicher als bisher vermutet", folgert der Forscher. Dabei stützt der Paläobiologe sich auf eine raffinierte und doch bestechend einfache Kette von Indizien, die auf sogenannten "Isotopen-Analysen" beruhen.

Der Begriff "Isotop" steht dabei für unterschiedlich schwere Atomsorten eines bestimmten Elementes. So wiegt zum Beispiel das leichtere Kohlenstoff-Isotop C-12 zwölf Einheiten, während das schwerere C-13 viel seltener ist. Beim Sauerstoff wiederum gibt es das 16 Einheiten schwere O-16 und das schwerere sowie deutlich seltenere O-18. In kühleren Regionen wie den Alpen, die vor 250.000 Jahren von einer Eiskappe bedeckt waren, kommt das schwerere O-18 im Wasser noch seltener vor als in wärmeren Regionen.

Diesen Mangel an O-18 sehen die Forscher auch noch weit flussabwärts im Rhone-Wasser. Auf der Ebene hoch über dem Unterlauf der Rhone lagen die Temperaturen damals wie heute deutlich über denen im Alpenraum. Und prompt steckt dort im Wasser viel mehr O-18. Diese Unterschiede spiegeln sich später auch in den Tieren wider, die von diesem Wasser getrunken haben. Finden die Forscher also bei Pferden und Nashörnern auffällig niedrige O-18-Werte, sollten diese Arten damals im waldigen Rhone-Tal gelebt haben. In Hirschen und Büffeln liegen die O-18-Werte dagegen relativ hoch, diese Tiere sollten also auf der Ebene Wasser getrunken und dort wohl auch gelebt haben.

Detail liegt im Zahnschmelz

Daneben untersuchen Bocherens und seine Mitarbeiter auch das seltene Kohlenstoff-Isotop C-13. Nehmen Pflanzen Kohlenstoff auf, der die Grundlage allen Lebens bildet, bevorzugen sie die leichtere Variante C-12. Dabei gibt es allerdings kleinere Unterschiede zwischen verschiedenen Pflanzen. Fressen Tiere diese Gewächse, übernimmt ihr Organismus diese Variationen. Misst Bocherens dann die Menge an C-13 im Zahnschmelz eines Tieres, kann er daraus ermitteln, welche Pflanzen diese Art gefressen hat. Verspeisten anschließend Neandertaler diese Tiere, übernahmen auch sie das entsprechende Verhältnis der Kohlenstoff-Isotope. Ermitteln die Forscher also die Konzentrationen von O-18 und C-13 im Zahnschmelz von Neandertalern, erfahren sie nicht nur, welche Tiere bei ihnen auf der Speisekarte standen, sondern auch, ob diese Tiere im Tal oder auf der Hochebene gelebt hatten.

In der Payre-Höhle im Süden Frankreichs finden die Forscher in zwei direkt übereinander liegenden Schichten Teile von Knochen und Zähnen, die von verschiedenen Tieren und manchmal auch von Neandertalern stammen, die dort vor rund 250.000 Jahren lebten. "Zwischen beiden Schichten können durchaus tausend Jahre gelegen sein", vermutet der Forscher. In dieser Zeit aber änderten sich die Verhältnisse von O-18 und C-13 in den Zähnen der Tiere praktisch nicht. Daher sollten auch die Umweltverhältnisse gleich geblieben sein, insbesondere sollte es in dieser Zeit weder deutlich wärmer noch kälter geworden sein.

Während die Isotope der in der unteren Schicht gefundenen Zähnen der Neandertaler-Kinder aber nahelegen, dass diese Gruppe im Flusstal Pferde und Nashörner jagte, erzählen die Zahnfunde aus der oberen Schicht eine andere Geschichte: Dort hatten sie es auf der Ebene auf Hirsche und Büffel abgesehen. Die auffallend vielen Knochen von Hirschen in dieser Schicht, untermauern diese Beobachtung weiter. Mit dieser Untersuchung haben Bocherens und seine Mitarbeiter Neuland betreten.

Wahre Feinschmecker

Bisher analysierten die Forscher die Ernährungsvorlieben meist mit Hilfe von Stickstoff- und Kohlenstoff-Isotopen im Kollagen uralter Knochen. Das Kollagen aber zerfällt mit der Zeit und nach 100.000 Jahren ist davon praktisch nichts mehr übrig. Im Zahnschmelz dagegen überdauert das Karbonat viel länger, dort lassen sich also auch noch nach 250.000 Jahren die Isotopen-Verhältnisse und damit die Lebensgewohnheiten der damaligen Neandertaler untersuchen.

"Allerdings können wir so bei Allesfressern wie den Neandertalern nichts über den Pflanzen-Anteil in der Nahrung erfahren", bedauert Bocherens. Da müssen die Forscher dann doch wieder auf das Kollagen in jüngeren Knochen zurückgreifen. Das haben sie dann auch bei den Neandertalern getan, die vor 40.000 Jahren auf einer Kältesteppe im heutigen Belgien Mammuts jagten. Mit einer weiteren Isotopen-Analyse entlarvten sie die Neandertaler als Feinschmecker, die neben ihrer Hauptnahrung Fleisch auch 20 Prozent Grünzeug vertilgten. Das Fleisch aber stammte weit überwiegend von Mammuts, zeigen die Analysen des Stickstoff-Isotops N-15 und von C-13 in den Knochen. Offenbar waren die Neandertaler echte Mammutjäger - und bewiesen damit erneut ihre Flexibilität.