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Gesichter wie geschlossene Bücher

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Liest man Sympathie und Antipathie aus Gesichtern heraus oder in sie hinein?


"Die haben den genau getroffen", sagt Jenny und deutet auf ein Bild, das die Wachsfigur von Donald Trump in Madame Tussauds Kabinett in London zeigt. "Der Blick aus den Augenwinkeln, der heruntergezogene Mund." Dabei hat ihn Jenny, die Auslandsamerikanerin, die seit ihrem Kunststudium in Wien lebt, sogar gewählt. Zuerst Bernie Sanders, dann "gegen Hillary". Doch die Fortsetzung der alternativen Wahrheiten des Donald T. über den Wahlkampf hinaus findet sie unerträglich. "Darum", sagt sie, "ist diese Wachsfigur so gut: Er schaut richtig unsympathisch aus."

Moment einmal!

Das sei doch einmal hinterfragt - nicht die fiktionale Wirklichkeit, in der sich der US-amerikanische Präsident bewegt, und auch nicht die derzeitige Politik der USA, wohl aber die Frage nach sympathisch und unsympathisch.

Ist es nicht genau anders herum? - So nämlich: Weil die Wachsfigur eindeutig Donald Trump zeigt und Jenny Donald Trump unsympathisch findet, entdeckt sie in der Wachsfigur unsympathische Züge.

Angenommen zum Beispiel, niemand wüsste, wer Donald Trump ist, und die Wachsfigur zeigt, ohne Änderung in der Physiognomie, den Dichter und Schriftsteller Herwig Bundschuh, einen brillanten Vertreter der Postmoderne, der jüngst eine Organisation zur Integrationshilfe für Flüchtlinge gestartet hat und in der Diskussionssendung von Anne Will den Satz prägte: "Europa ist gleichbedeutend mit Humanismus. Verweigert Europa den Humanismus, begeht es Suizid." Würde Jenny dann also auch den herabgezogenen Mund und den Blick aus den Augenwinkeln zu "der ist unsympathisch" summieren, oder würde sie in dem Gesicht Intelligenz, Tatkraft, Verletzlichkeit (die Künstlerseele) und Aufrichtigkeit erkennen?

Es gibt keinen Herwig Bundschuh, er war nur eine Fiktion für einen Absatz.

Doch die Frage bleibt: Wenn wir nicht wissen, wem wir das Gesicht zuordnen können - warum finden wir manche Gesichter sympathisch, andere unsympathisch? Neutral bleibt man nämlich niemals gegenüber einem Gesicht. Es ist unmöglich, auf ein Gesicht nicht zu reagieren, es nicht zu bewerten. Wer sich das nicht eingesteht, macht sich etwas vor. Schon die ersten drei Sekunden des Kennenlernens sollen über Sympathie oder Antipathie entscheiden, wollen Psychologen herausgefunden haben. Andere setzen die Zeitspanne länger an, bleiben aber im einstelligen Sekundenbereich. In dieser Zeit kann man keinen Charakter und keine Eigenschaften ausloten.

Sind Gesichter also das genaue Gegenteil von offenen Büchern? Geschlossene Bücher nämlich, von denen der Leser aber die Befriedigung der eigenen Erwartungshaltung in Bezug auf Stil und Inhalt wünscht.

Dazu ein Test: Unter die 36 Gesichter, die diesen Text begleiten, ist das eines überführten und verurteilten Serienmörders oder einer überführten und verurteilten Serienmörderin geschmuggelt. Wer traut sich zu, nur am Gesicht mit hundertprozentiger Sicherheit den Charakter ablesen und somit die Mörderin oder den Mörder herausfinden zu können?

Es ist wesentlich tiefer gehängt als Serienmord, aber das Ergebnis verblüfft bis heute - und ist für Männer gar nicht so angenehm: Frauen können Männern am Gesicht ablesen, ob sie treu sind oder nicht. Das behaupteten im Jahr 2012 australische Forscher auf der Basis einer Testserie. Die Forscher benützten Porträtfotos, wodurch sie einem unwillkürlichen Mienenspiel zuvorkamen. "Gott möge von allem abhüten, was noch ein Glück ist", sagte sinngemäß Friedrich Torbergs Tante Jolesch. In diesem Sinne mag es für untreue Männer noch ein Glück sein, dass die Trefferquote der Frauen nur im mittleren Bereich lag - aber nachzuweisen war sie zweifellos. Untreue Frauen haben es da wesentlich besser: Die Trefferquote der Männer war nicht signifikant.

Der Schweizer Paul Kobel, diplomierter Naturarzt, wie die Berufsbezeichnung lautet, bezeichnet sich darüber hinaus als Gesichterleser, oder, um der Sache eine wissenschaftlich anmutende Aura zu verleihen, als Physiognom. Er behauptet, einem Menschen sozusagen an Nasenspitze und Ohrläppchen die Charaktereigenschaften ablesen zu können.

Funktioniert das wirklich? Wer abstehende Ohren hat, sei leichter zu provozieren, wer eine spitze Nase hat, sei neugierig und interessiert, sagt Kobel. Nun war Albert Einsteins Nase zwar nicht sonderlich spitz, aber Kobel beschränkt sich bei der Gesichtslesung ja auch nicht auf ein einziges physiognomisches Merkmal, sondern gewinnt seine Schlüsse aus der Kombination zahlreicher Einzelheiten.

Damit steht er in der Tradition seines Landsmanns, des Pfarrers und Philosoph Johann Caspar Lavater, der seine 2000-seitigen "Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe" in den Jahren 1775-1778 in vier Bänden veröffentlichte. Im 22. Wiener Gemeindebezirk hat ihm das einen Straßennamen eingetragen.

Den Ruf der Physiognomik ruiniert haben die Nationalsozialisten. Sie stürzten sich auf eine Gesichtszüge- und (noch mehr) Schädelkunde, um auf der Basis der Anatomie herauszufinden, welche "Menschenrassen" sogenannte Untermenschen wären. Aber der Missbrauch würde noch lange nicht automatisch gegen eine wissenschaftliche Disziplin sprechen. Fragt sich nur, ob das Gesichterlesen als eine solche durchgehen kann.

Zumal dann, wenn man so schnell in der völligen Subjektivität landet. Attraktive Menschen etwa werden für gesünder, intelligenter und sozialkompetenter gehalten. Das ist nachgewiesen. Aber der Faktor "attraktiv" ist weit entfernt von objektivierbar - oder sollte es zumindest sein, denn welchen Typus man als attraktiv erachten soll, hämmern einem ja Werbung, Film und Fernsehserien ein.

Aber selbst, wenn man das subjektive Schönheitsempfinden einmal hintanstellt, wackelt die These "schön wird für intelligent gehalten" in dem Moment, in dem man konkrete Beispiele heranzieht. Marilyn Monroe als Mathematiknobelpreisträgerin und Brigitte Bardot als Physikerin - wie glaubhaft wäre denn das? Und da sage jetzt niemand, die geschmacksbefreiten Blondinenwitze seien daran schuld, dass man der Bardot die Marie Curie nicht glauben würde.

Und können wir ganz sicher sein, dass es nicht eigene Prägungen und damit auch eigene Vorurteile sind, die wir in den fraglichen drei bis sieben Sekunden der Sympathie-Antipathie-Entscheidung in die Gesichter hineinprojizieren?

Wenn man zum Beispiel einen Mathematiklehrer hatte, der einen auf die unfairste Weise karniefelt hat, und dieser Mathematiklehrer hatte eine Totalglatze und eine dicke Hornbrille - wie steht man dann zu einem Mann mit Totalglatze und dicker Hornbrille, der mit Mathematik nichts am Hut hat, sondern Taxilenker ist oder Klavierstimmer? Und wie steht man zu der Buchhändlerin, die rein physiognomisch an die Englischlehrerin erinnert, in die man damals, in der siebenten und achten Klasse völlig verknallt war? Innerhalb der Zeit (wie gesagt: drei bis sieben Sekunden) müsste man das alles so analysieren und damit rationalisieren, um sich von den Prägungen und Vorurteilen zu lösen. Das ist - nun: vielleicht nicht ausgeschlossen, aber doch reichlich unwahrscheinlich.

Was letzten Endes bedeutet, sich einzugestehen, dass man Sympathie und Antipathie nicht aus einem Gesicht ab-, sondern in ein Gesicht hineinliest. Wäre es anders, dann hätte man mühelos und treffsicher das unterste Bild in der Spalte links außen als das des Serienmörders erkannt: Es zeigt Ted Bundy. Wer es herausgepickt hat, weil sie oder er wissen, wer Ted Bundy war und wie er aussah, möge sich fragen, ob ein Mann mit dieser Physiognomie nicht auch Regattasegler sein könnte.