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Die Dinge denken, die es noch nicht gibt

Von Eva Stanzl

Wissen

Molekularbiologin Renée Schroeder über die Fähigkeit des Menschen, Evolution zu gestalten, Feminismus und Menschenrechte.


"Wiener Zeitung": Ihr Buch "Die Erfindung des Menschen" wurde zum "Wissenschaftsbuch des Jahres 2017" gekürt. Es geht um die Kreativität des Homo sapiens, der durch seinen Erfindergeist als erstes Lebewesen seine eigene Evolution gestalten kann. Hat der Mensch eine einzigartige Position in der Evolution?Renée Schroeder: Derzeit glauben wir, der Mensch ist einzigartig, weil wir von anderen Arten nicht wissen, wie sehr sie bewusst erkennen, wer sie sind. Der Mensch ist erfinderisch und kann über die Zukunft nachdenken. Wenn man das tut, handelt man anders, und uns ist nicht bekannt, dass es ein Tier gibt, das diese Zusammenhänge versteht, kreativ denkt, plant und danach handelt.

Was ist die menschliche Leistung?

Die geistige Leistung des Menschen liegt im Verstehen von Zusammenhängen. Wir sind jetzt in der Lage, bewusst zu erkennen, wie Evolution überhaupt funktioniert, und dass wir in die eigene Evolution eingreifen. Wenn der Papst sagt, Gott hat den Menschen die Erde geschenkt, dann meint er damit auch, dass der Mensch dafür verantwortlich ist, ob er überleben oder sich selbst vernichten will. Es ist vielen bewusst, dass wir für unsere Zukunft verantwortlich sind. Aber wie sehr wir durch unser Verhalten und unsere Erfindungen die Aktivität unserer Gene im Laufe der Jahrtausende verändern, wissen die wenigsten.

Können wir Fähigkeiten dazugewinnen oder verlernen?

Durch unsere technischen Erfindungen und unseren Glauben verändern wir unser Verhalten - und unser Verhalten verändert die Aktivität unserer Gene. Je nachdem, was wir gewohnheitsmäßig tun, schalten sich Gene ein und aus, und wenn das oft genug geschieht, findet es Eingang in die Selektion. Wenn Sie zum Beispiel Sport machen, aktivieren Sie andere Gene, als wenn Sie ruhen. Wenn Sie nie Alkohol trinken, sind Sie nicht in der Lage, diesen schnell zu verdauen. Trinken Sie aber regelmäßig Alkohol, sind Ihre Gene zum Verdauen von Alkohol wesentlich aktiver, denn die Zellen merken sich, welche Genaktivitäten notwendig sind, um etwas zu bewältigen. Auf die Dauer prägt sich das ein und es kommt zu Mutationen. In Afrika etwa braucht man eine dunkle Haut, um sich vor den UV-Strahlen der Sonne zu schützen. Als schwarze Menschen von Afrika nach Europa wanderten, bekamen sie weniger Sonne ab und hatten Vitamin-D-Mangel. So lange, bis irgendwann eine Mutation helle Haut hervorrief, die die Sonne besser aufnimmt.

Ist die Evolution des Menschen also ein Wechselspiel zwischen den Genen und den eigenen Handlungen?

Die Genetik ist ziemlich stabil und langsam, daher hat die Epigenetik die Aufgabe übernommen, auf schnelle Veränderungen zu reagieren. Die Epigenetik analysiert die chemischen Veränderungen rund um die Gene, welche die Gen-Aktivität rauf oder runter regulieren. Eine Leberzelle ist anders als eine Hautzelle, beide haben aber die gleichen Gene. Eine Arbeiterin hat die gleichen Gene wie die Bienenkönigin, aber sie verfolgen andere Aufgaben, weil andere Gene ein- und ausgeschalten sind. Die Epigenetik macht es möglich, sich schnell an neue Umweltbedingungen anzupassen, so lange bis eine Mutation passiert, die diese neuen Bedingungen befestigt. Erst damit wird eine Veränderung stabil.

Die kulturelle und technologische Evolution schreitet atemberaubend schnell voran. Wie kann der Mensch seinen Erfindergeist überleben? Bringt Kreativität uns um?

Die Technologie verändert unser Verhalten, unser Arbeiten und unseren Alltag. Das könnte zur Folge haben, dass Folgegenerationen andere Jobs machen müssen oder mehr Reproduktionserfolg haben. Unsere Erfindungen können aber genau so missbraucht werden und zur Auslöschung der Menschheit und anderer Spezies führen. Am meisten wird sich allerdings in der Neurobiologie tun, wenn wir einmal unser Gehirn verstehen werden. Denn was ist das Ich? Ist es etwas reelles oder eine kulturelle Erfindung? Es wird sicher einmal möglich sein, das Denken von Menschen sehr gezielt zu manipulieren, wesentlich effizienter als es jetzt auch schon erfolgt.

Wie sehr wird über diese Entwicklungen diskutiert?

Ich habe das Gefühl, dass der Großteil der Menschen immer noch an einen Schöpfergott glaubt, der alles bestimmt und der, wenn wir ihm gehorchen, für unser Überleben sorgt. Es ist ja auch eine erfolgreiche Strategie, Kindern zu sagen, dass sie ständig beobachtet und bestraft werden, wenn sie gewisse Dinge (nicht) tun. Aber wenn wir erkennen, dass dem eigentlich nicht so ist und dass wir die Regeln selbst finden müssen, müssen wir überlegen, nach welchen Kriterien wir sie machen: Was ist unser Ziel? Über solche Dinge wird selten öffentlich nachgedacht.

Was muss der Mensch denken, um in seiner Evolution auf den richtigen Pfad zu kommen?

Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er Dinge denken kann, die es noch nicht gibt. Ein Bewusstsein zur Nachhaltigkeit wäre dabei wichtig und dass er seine Umwelt als Nische erkennt, die es zu schützen und nicht zu vernichten gilt. Auch der Respekt für andere ist eine erfolgreiche Strategie. Wir sind eine aggressive Spezies. Wenn Menschen in den vergangenen Jahrtausenden migriert sind, gab es oft Massensterben von Tieren, die ungefähr seine Größe haben. Natürlich ist auch Aggression eine erfolgreiche Strategie, die Frage ist nur wie lange. Etwa gibt es keine Überlieferungen, ob unser Vorfahr Homo erectus eine Kultur aufbaute. Aber es gab ihn 1,2 Millionen Jahre, er war erfolgreich, was die Zeitlänge betrifft, in der er lebte. Den Homo sapiens gibt es 100.000 Jahre - er ist in der Zahl erfolgreich. Doch wenn wir zu viel wachsen, produzieren wir auch viele Giftstoffe, die uns dann auch umbringen können. Wir haben das schon erkannt.

Und nützt uns diese Erkenntnis?

Es könnte uns sehr nützen. Wir haben erkannt, dass unsere Industrie einen negativen Einfluss auf die Erde hat. Wir haben erkannt, dass wir unsere eigene Evolution vorantreiben und dass wir ein selbst kontrolliertes System sind, dass kein Gott einen Plan macht und dass alles selbst organisiert ist - auch das Universum. Wir können darüber reflektieren, dass wir existieren, und beobachten, was wir tun. Daraus erwächst Verantwortung. Nur haben wir noch nicht nachgedacht, was wir mit dieser Verantwortung anfangen sollen. Es ist unsere Entscheidung, aber wir haben nicht gelernt, solche Entscheidungen zu treffen. Und darum geht es: Mit Fernblick zu entscheiden, wie wir handeln müssen.

Sie schreiben, der Feminismus ist eine Strategie zur Verbesserung der Menschenrechte. Hat‘s funktioniert?

Der Feminismus sensibilisiert Menschen auf den Respekt für Andere, und darauf, dass andere einen Wert haben. Der Feminismus hat auch viel erreicht. Auch Männer haben erkannt, dass es ihnen in einer gleichberechtigten Gesellschaft besser geht als in einer hierarchischen, die sich in Alpha-, Beta-, Gamma- und Omega-Männer unterteilt die nur funktioniert, wenn Männer und Frauen unterdrückt werden. Diese Hierarchie kann eigentlich nur mit Gewalt aufrechterhalten werden. Wenn sie fällt, geht es allen besser, denn dann gibt es echte Verantwortungs- und Arbeitsteilung und alle können tun, was sie am besten können. Eine Gesellschaft, ihre Werte und ihre Qualität, spiegelt sich darin, welche Rechte die Frauen in dieser Gesellschaft haben. Nur solche Gesellschaften sind erfolgreich, in denen Frauen gebildet sind.

Buch und Person

Die Erfindung des Menschen

Renée Schroeder/Ursel Nendzig, Residenz Verlag, 22 Euro.

Renée Schroeder

geboren 1953 in João Monlevade, ist Mikrobiologin und Professorin am Department für Biochemie der Max F. Perutz Laboratories der Medizinuni Wien.