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Ein Gefühl wie Mohr im Hemd

Von Eva Stanzl

Wissen

Kaum ein Lebensbereich ist so direkt von Gefühlen gesteuert wie das Essen. Daher funktionieren Diäten und Fastenkuren nur kurz.


Maximal 18 Kilo Zucker pro Jahr oder 16 quadratische Zuckerwürfel täglich. Wenige Kohlehydrate und schon gar keine Kohlehydrate mit Eiweißen in einer Mahlzeit kombiniert. Kein Fast Food, nicht zu viel Fett, keinen Salat am Abend. Keine Laktose, keine Salicylsäure, keine Himbeeren, Heidelbeeren und keinen Zimt. Kein Rindfleisch (zu sauer) und auch keine Lebensmittel, die mit Zitronensäure konserviert sind.

So und ähnlich sehen lange Listen von Faktoren aus, die beim Lebensmittel-Einkauf zu beachten sind. Um abzunehmen, wieder ordentlich ins Badegewand zu passen, nicht mit Unverträglichkeitssymptomen kämpfen zu müssen und chronischen Krankheiten vorzubeugen. Vor allem verarbeitete Lebensmittel, die versteckten Zucker enthalten, sollten so weit wie möglich gemieden werden, empfehlen Ernährungsexperten rechtzeitig zur Fastenzeit.

Und was heißt das konkret? Reicht es etwa nicht, dass der Zucker sich durch seinen Geschmack verrät? Was dürfen wir noch essen, und vor allem wie können wir vermeiden, dass das Studium aller zu vermeidenden Inhaltsstoffe die Aufmerksamkeit einer halben Diplomarbeit erfordert und eine ähnliche Paranoia hervorrufen wie Medikamenten-Beipackzettel? Haben Nahrungsmittelindustrie und Wellness-Wahn uns den Genuss gestohlen?

Bis zu einem gewissen Grad ja. Kochbuchautoren bemühen sich immerhin um einen Spagat zwischen Gesundheit und Gaumenfreuden. Das Ergebnis ist die Heirat von Genuss und Kontrolle. "So programmieren Sie ihre Bakterien auf schlank", schreiben etwa die Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Probiotische Medizin, Anita Frauwallner, und die Autorin Tanja Braune: Gute Figur oder nicht hat mit der Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms zu tun, und bestimmte Nahrungsmittel können schlank machende Bakterien unterstützen, heißt es in der bunt bebilderten "Darm-Diät", deren Kreationen durchaus verführerisch aussehen. Die Food-Bloggerin Eva Fischer wiederum verspricht einen glücklicheren Alltag durch einen natürlichen Zugang zum Essen. "Life Changing Food", ein speisentechnisches Baukastensystem, soll Menschen mit Glutenunverträglichkeit die Ernährung schmackhaft machen, die Figur durchaus in Schwung bringen und die Stimmung weitgehend positiv beeinflussen. Und tatsächlich: Die Fotos zeigen einen Speisen-Himmel, der aussieht, als könnte er eine Statur wie von Kate Moss verleihen - ganz ohne Opfergaben.

Trotz solcher Zauberformeln bleiben die wenigsten Menschen konsequent bei einer Diät. Dabei wäre es so leicht. "An sich sind Diäten eine Milchmädchenrechnung: Die Kalorienzufuhr und der Kalorienverbrauch müssen in einem guten Verhältnis zu einander stehen", betont die Gender-Medizinerin und Diabetologin Alexandra Kautzky-Willer. Völliger Klacks. Und schwierig wie die Hölle.

Unmittelbare Belohnung

Die Hintergründe sind genetisch bedingt und hängen zudem mit der Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms zusammen. Auch das Hormonsystem, das den Stoffwechsel steuert, redet bei der Nahrungsaufnahme einige Worte mit. Doch noch ein anderer Diktator steuert, was wir gerne essen. Er zieht nicht etwa am Teller, sondern tief innen drinnen die Fäden. Kaum ein Lebensbereich ist so direkt von den Gefühlen gesteuert wie das Essen. Mit Mathematik hat das nichts zu tun.

"Das Gehirn hat ein Belohnungssystem und mit Essen kann man sich sehr gut und unmittelbar belohnen", erklärt Jürgen König, Departmentsleiter für Ernährungswissenschaften der Universität Wien. Um zu essen, muss man nämlich gar keinen Hunger haben. Vielfach steuert die Psyche den Wunsch nach Lebensmitteln. Wer als Kind emotional schwierige Situationen meistern musste und dafür regelmäßig mit Schokolade belohnt wurde, dessen Gehirn hat gelernt, in solchen Situationen zu Süßem zu greifen. Die Erinnerung verknüpft das Belohnungssystem mit diesem Lebensmittel. Es zu essen, löst immer wieder dieselbe Genugtuung aus.

Somit macht Schokolade glücklich. Oder? Nicht ganz. Nehmen wir den selten gewordenen, warmen, kleinen Schokoguglhupf namens Mohr im Hemd, der, mit heißer Schokoladensauce übergossen und kühlem Schlagobers garniert, eine köstliche Mischung von warm und kalt, flüssig und fest darstellt. Jeder Bissen ein Genuss und die liebliche Süße macht auch froh. Doch alles darüber hinaus - "es ist ein wohlig-belohnendes Gefühl", "den habe ich mir jetzt verdient" - liegt nicht am Schokoladekuchen. Denn auch Pudding, Stockfisch, gefüllte Paprika, Pommes Tricolore oder Bulgursalat können als belohnend empfunden werden. Die Symbiose von Essen und Emotion hat nämlich weniger mit den Inhaltsstoffen, als mit der persönlichen Konditionierung zu tun. Und die kann sich bei jedem bewussten Erlebnis einprägen.

Wenn die Oma in der Kindheit am Sonntag für die Familie Schnitzel macht und diese Mahlzeiten als besonders gemütlich empfunden werden, reicht das, um später im Leben versucht zu sein, eine Diät für eine schöne, gemütliche Portion Herausgebackenes zu unterbrechen. Und nicht nur das: Selbst die Vorstellung vom Schnitzel ruft dasselbe Gefühl hervor. "Um den Reiz zu aktivieren, muss das Essen nicht vor einem stehen, sondern es genügt ein Bild davon. Optische Signale sind mit dem Gefühl vergleichbar, die Speise tatsächlich zu sich zu nehmen", so König.

Beim Essen sind die Menschen also wie Pavlovsche Hunde, die beim Signal der Glocke in Erwartung ihres Herrchens zu speicheln beginnen. Ob jedoch Fotos von Lieblingsgerichten diätwirksam sind, mag bezweifelt werden.

Essen und Sexualität

Jens Blechert und seine Kollegen vom Fachbereich für Psychologie Universität Salzburg nutzen Abbildungen von Nahrungsmitteln, um zu erforschen, wie die Stimmungslage mit ungesundem Essen zusammenhängt. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt will das Team zunächst dem Frust-Gusto bei Frauen auf die Spur kommen.

Gesunde Probandinnen notieren dazu emotional anstrengende oder belastende Situationen und Abweichungen im Essverhalten in einer Smartphone-App. Aufgrund dessen werden sie in die Gruppe der hoch-emotionalen Esserinnen, niedrig-emotional motivierten Esserinnen oder ins Mittelfeld eingeordnet. Die Einteilung wird mit Hirnstrommessungen überprüft und unterdessen werden die Probandinnen gebeten, sich eine negativ belastende, traurig machende Situation in Erinnerung zu rufen. Nach dem Stimmungsreiz wird mittels Elektro-Enzephalogramm gemessen, welche Hirnareale als Reaktion auf Fotos von g’schmackigen Snacks aktiv werden. "Daraus kann man dann Rückschlüsse auf die Mechanismen von emotionalem Essen ziehen", so Blechert.

Die Forschenden untersuchen, wie Essensbilder unter traurigen Eindrücken verarbeitet werden. Bekommen die Snacks mehr Aufmerksamkeit oder weniger? Wird die Aufmerksamkeit unterdrückt aus Angst vor Kontrollverlust, und wo im Gehirn sind Reaktionspotenziale auf die Bilder messbar?

Kognitive Bremse

Beim Betrachten von Essensbildern erwarten die Forscher Hirnströme im visuellen Kortex und im Belohnungszentrum. Müssen gleichzeitig Emotionen durch Speisen reguliert werden, müsste bei negativer Stimmung der Frontallappen die Aufmerksamkeit auf die Bilder steuern. Wenn dabei auch das Kontrollsystem aufleuchtet, könnte dies mit einer Entgleisung der "kognitiven Bremse" zu tun haben. "Die Person könnte zwar beschlossen haben, nichts Ungesundes auf den Tisch zu stellen - bei großem Stress wäre diese Bremse jedoch überlastet", sagt der Psychologe.

Der Mensch will Leid mit Belohnung, negative mit positiven Emotionen ausgleichen. Früher musste der Bauer dazu auf die Ernte warten. Heute kann sich nahezu jeder Mensch in der westlichen Welt fast jederzeit mit ein paar Bissen trösten. Daher müssen wir die Nahrungsaufnahme kontrollieren. "Bei Menschen spielen äußere Signale eine wesentlich größere Rolle als bei Tieren. Anders als sie wissen wir nicht immer, wann wir satt sind" sagt Jürgen König.

Viele Menschen haben verlernt, auf ihre physiologischen Signale zu hören. Ausschlaggebend sind Zeit und Überfluss. Wer im Stress schnell etwas hinunterwürgt, lässt den Satt-Signalen des Magens keine Zeit, im Gehirn anzukommen. Und wer den Teller zu voll hat, gewinnt eine falsche Vorstellung vom Aufessen. Um die Hürden angesammelter Essgewohnheiten zu überwinden, müssen Willige etwa ein Jahr einberechnen. So lange braucht der Körper, um ein antrainiertes Ernährungsverhalten durch ein neues, gesünderes zu ersetzen. Wer sich diese Zeit nicht gibt, bei dem funktionieren Diäten, Fastenkuren & Co nur kurz. "Es lohnt sich, Verantwortung zu übernehmen für was man isst", sagt König, "denn keine Bereiche des Lebens unterliegen so stark der ureigenen Entscheidungsfreudigkeit wie das Essen und die Sexualität."