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Wenn das Blut zu uns spricht

Von Alexandra Grass

Wissen
Die roten Blutkörperchen transportieren den Sauerstoff durch den menschlichen Körper.
© Fotolia/Spectral-Design

Das Blut, ein Livestream des Körpers. Die Medizin steht vor völlig neuen Möglichkeiten.


Was wäre, wenn wir das werdende Leben - Zeugung, Schwangerschaft, Geburt - unter Kontrolle hätten? Was wäre, wenn wir unser Genom beeinflussen könnten, um gesünder altern zu können? Was wäre, wenn wir Krankheiten vorhersagen könnten? Diese Fragen stellt der deutsche Wissenschaftsjournalist Ulrich Bahnsen in "Das Leben lesen - Was das Blut über unsere Zukunft verrät" (Verlag Droemer-Knaur). Darin verdeutlicht er eine Sprache, in deren Übersetzung wir uns mittendrin befinden. Es dreht sich um die geheime Sprache des Blutes, die uns in Zukunft behilflich sein könnte, das menschliche Leben zu jedem Zeitpunkt zu kontrollieren. Ob Fluch oder Segen, darüber wird diskutiert. Aber fest steht: Die Entwicklung auf dem Gebiet scheint kaum noch aufhaltbar zu sein. Und die Forschung ist viel weiter, als wir zu denken vermögen.

"Blut ist ein ganz besonderer Saft" - mit diesen Worten ließ schon Johann Wolfgang von Goethe seinen Mephistopheles sprechen, als er Faust in dessen Studierzimmer auffordert, den Pakt mit einem Tröpfchen Blut zu unterzeichnen. Er hatte damit so richtig ins Schwarze getroffen, denn das Blut in unserem Körper hat allerhand auf dem Kasten. Es ernährt und beschützt uns, es heilt unsere Wunden und dient Tag und Nacht als Nachrichtendienst zwischen den vielen Organen.

Tote Zellen Goldes wert

Die roten Blutkörperchen, die Erythrozyten, transportieren den Sauerstoff, die weißen Blutkörperchen, die Leukozyten, machen Krankheitserreger unschädlich. Während die B-Zellen vielfältige Fremdstrukturen identifizieren, starten, lenken und beenden die T-Zellen Attacken des Immunsystems. Die natürlichen Killerzellen wiederum nutzen den Nahkampf. Und ist die Abwehrschlacht geglückt, räumen die Makrophagen auf und spucken die toten Zellen wieder aus. Sie schwimmen dann als sogenannte zellfreie DNA im Blut. Dabei kann es sich etwa um das Erbgut abgestorbener Körperzellen, erfolgreich eliminierter Erreger oder auch getöteter Tumorzellen handeln. Unser Blut stellt damit einen Livestream aller Vorgänge in unserem Organismus dar. Der Medizin eröffnet dies lange ungeahnte Möglichkeiten.

Genetische Abweichungen des werdenden Lebens können bereits in der neunten Woche der Schwangerschaft aus nur einer einzigen Blutprobe abgelesen werden. Im Visier stehen dabei vor allem bestimmte Chromosomen. Kommt es im Zuge der Vereinigung von Ei- und Samenzelle zu einer Chromosomenverdreifachung - zu einer Trisomie -, führt das beim Heranwachsenden zu körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Schweregraden.

Eine solche mögliche Beeinträchtigung, deren Wahrscheinlichkeit sich mit zunehmendem Alter der Eltern erhöht, ließ sich bislang nur durch eine Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) oder Plazentapunktion (Chorionzottenbiopsie) ermitteln. Heute wird bereits ein Bluttest verwendet, der bei Risikoschwangeren als Screening-Verfahren eingesetzt werden kann. Innerhalb nur weniger Jahre wurde die vom chinesischen Pathologen Dennis Lo entwickelte Technologie von einem reinen Experiment zur Standarduntersuchung in mehr als 90 Staaten.

"Ein erstaunlicher Fortschritt, der aber auch eine ganze Reihe ethischer Probleme, moralischer Fragen und eine Menge Streit darüber hervorgebracht hat", schreibt der Autor. Für die betroffenen Schwangeren selbst, die sich auch bisher schon vorgeburtlichen Untersuchungen unterzogen haben, bedeutet diese Entwicklung eine willkommene Alternative zu den herkömmlichen Methoden. Denn das Risiko, nach herkömmlichen Methoden eine Fehlgeburt zu erleiden, ist nicht unerheblich. Braucht dafür nur ein Tropfen Blut abgenommen werden - in der Fachsprache Liquid Biopsy -, ist dieses Risiko ausgeschaltet. Welche Schritte die werdenden Eltern aufgrund dieser Information tätigen, ist und bleibt Privatsache.

Ethisch und moralisch diskussionswürdig ist ein bevorstehender weiterer Schritt. Denn theoretisch ließen sich über den Lebenssaft auch viele andere genetische Defekte des Ungeborenen herausfiltern. Auch viele Krankheiten, die wir heute nur schlecht, aufwendig oder überhaupt nicht rechtzeitig entdecken können, hinterlassen eine warnende Nachricht im Blut. Und seitdem im Jahr 2010 die fast vollständige Entschlüsselung des Genoms eines menschlichen Fötus gelungen war, können wir diese Nachrichten auch lesen - sofern wir dies zulassen. Denn derzeit schaut die Medizin in der DNA des Kindes nur auf gezielte Veränderungen und nicht auf das gesamte Erbgut. Für die Zukunft wird es wohl gelten, weitere Regeln aufzustellen.

Liquid Biopsy bei Krebs

Die Möglichkeiten der Liquid Biopsy stellen noch viele andere Bereiche des Lebens auf den Kopf - etwa auch die Krebsbehandlung. Denn die im Blut zirkulierende zellfreie Tumor-DNA lässt sich isolieren und charakterisieren, beschreibt Gerald Prager von der Klinischen Abteilung für Onkologie der MedUni Wien gegenüber der "Wiener Zeitung".

Das Krebserbgut gelangt dann ins Blut, wenn Zellen absterben. Umso mehr der Tumor wächst, desto mehr seiner DNA findet sich. Bei erfolgreicher Therapie sinkt der Anteil, wodurch sich die Erkrankung im Blut quantitativ verfolgen lässt. "Diese Daten korrelieren besser mit dem Tumorverlauf als die herkömmlichen Marker auf Proteinebene, weil sie genauer sind", so der Onkologe. Die Charakterisierung des Erbguts über das Blut wird künftig eine wichtige Rolle bei der Therapieentscheidung spielen.

Während bei der Pränataldiagnostik das Augenmerk auf Trisomien gelegt wird, werden auch beim Krebs nur die Veränderungen des Tumors unter die Lupe genommen und nicht das gesamte Genom des Patienten sequenziert. Die Untersuchungsansätze, ob etwa nur das Tumormaterial detektiert wird oder erbliche Mutationen der Keimbahn, sind übrigens im Gentechnikgesetz getrennt geregelt. Eine komplette Durchleuchtung des Menschen wäre technisch schon möglich, doch gibt es hier gesetzliche Schranken - und es stellt sich die Frage, was man mit dem Resultat eigentlich anfängt. "Es gibt ja viele Veränderungen, wo man gar nicht weiß, welche Signifikanz beziehungsweise Konsequenz das hat", so Prager.

Auch die Früherkennung wird noch auf sich warten lassen. Zwar verrät die zellfreie Tumor-DNA nicht nur, dass ein Krebs wächst, sondern auch wo, doch werden auch die Bluttests zur Krebsfrüherkennung - ebenso wie bei den üblichen Screeningmethoden - nicht unfehlbar sein. Die mehr als 230 Tumorarten streuen alle ihre Erbmoleküle ins Blut, doch sind es viel weniger, als ein Fötus abgibt. Etwa 10 Prozent der Fragmente im Blut von Schwangeren stammen aus dem Ungeborenen, bei einem ahnungslosen Krebskranken verrät sich der Tumor unter Umständen nur durch ein Promille. Damit sind Fehler vorprogrammiert.

Steve Horvath, Mathematiker an der University of California, wiederum ist ein ganz besonderer Coup gelungen. Er hat einen Algorithmus entwickelt, der unsere Lebenszeit messen kann. Horvaths Clock verrät uns aber nicht, welchen Geburtstag wir feiern, sondern wie alt unsere Zellen sind. Dieses biologische Alter kann unterschiedlich ausfallen - auch, wenn Menschen im selben Jahr geboren sind. Doch was hält manche Erdenbürger jünger als andere? Es sind offenbar besondere Proteine, die im Alter nicht mehr ausreichend gebildet werden.

Weg zur Verjüngung

Im Blickpunkt der Anti-Aging-Forschung steht ein bestimmtes Eiweiß: CSF-2 (colony stimulation factor 2). Spritzt man dieses vergreisten Tieren, schneiden sie bei kognitiven Tests wieder viel besser ab. Auch Menschen verfügen, Forschern zufolge, in der Jugend über diese magische Kraft. In den nächsten Jahren könnten verjüngende Therapien durchaus möglich werden. Doch wer soll sie erhalten? Kranke? Oder auch jeder, der will - und bezahlen kann?

Den Tod werden wir auf jeden Fall nicht wirklich hinauszögern können. Stanford-Forscher Tony Wyss-Coray glaubt nicht, dass Menschen viel älter als 120 werden - auch mit Verjüngungskuren. Doch eine langsamere Zellalterung würde einen Gewinn an guten Jahren bedeuten. Mit einem gesunden Lebensstil können wir diese sogar heute schon beeinflussen, wie wir aus der Epigenetik wissen.

Sachbuch
Das Leben lesen. Was das Blut über unsere Zukunft verrät.
Ulrich Bahnsen
Verlag Droemer-Knaur
272 Seien, 19,99 Euro