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Schmelzwasser-Ströme am Südpol

Von Alexandra Grass

Wissen

Die jahrzehntealten Flusssysteme könnten in Folge des Klimawandels zum Eisverlust beitragen.


New York/Wien. Im späten Sommer - im Februar und März - machen sich auf dem antarktischen Kontinent Jahr für Jahr Schmelzwasserflüsse breit. Der größte von ihnen, der 30 Kilometer lange Onyx River, ist Forschern schon lange bekannt. Im Jahr 2006 hatten Wissenschafter entdeckt, dass die unter der Eisoberfläche liegenden sogenannten subglazialen Seen vermutlich durch ein ganzes Netzwerk unterirdischer Wasserarme untereinander verbunden sind. Zwischen ihnen findet ein Druckausgleich und Wassertransport statt. Doch dürfte es am Südpol weit mehr solcher Stromgebiete geben als bisher angenommen, wie Polarforscher des Earth Institute an der Columbia University im Fachblatt "Nature" berichten.

Viele der erst vor kurzem erstmals kartierten Ströme sind den Forschern zufolge nicht neu. Aber das neu gewonnene Faktum ihrer Existenz sei von Bedeutung. Die Flüsse scheinen sich angesichts der langsam steigenden Temperaturen zu erweitern und könnten damit die Höhe des Meeresspiegels stark beeinflussen.

Unmögliches möglich

Schon in den frühen 1920er Jahren hatten Wissenschafter begonnen, einige der antarktischen Schmelzwasser-Ströme zu dokumentieren. Aber damals wusste noch niemand, wie umfangreich diese seien. Anhand von Bildern aus den Jahren 1947 bis 1973 fanden die Forscher nahezu 700 saisonale Systeme vernetzter Seen, Kanäle und verflochtener Ströme, die den gesamten Kontinent umsäumen.

Manche dieser Gewässer erstrecken sich über eine Länge von 120 Kilometern. Ihren Ursprung haben sie rund 600 Kilometer vom Pol entfernt und enden einen guten Kilometer oberhalb des Meeresspiegels, wo flüssiges Wasser bis dahin als selten bis unmöglich erschien.

"Ich denke, die meisten Polarforscher hätten gedacht, dass es ein extrem seltenes Bild ist, dass Wasser über die Antarktis fließt", betont Studienautor Jonathan Kingslake, Geltscherforscher an der Columbia University. "Aber wir fanden sehr viel davon, über sehr große Gebiete hinweg." Die Daten sind allerdings zu dürftig, um sagen zu können, ob sich die vielen Schauplätze der Wasserbewegung vermehrt haben oder sie schon über sieben Jahrzehnte hinweg existieren.

Mit Blick auf die Zukunft erscheint es den Forschern besonders interessant, die Entwicklung hinsichtlich der stattfindenden Klimaerwärmung zu beobachten und inwieweit sie Einfluss auf die Eisdecke hat.

Viele der neu kartierten Ströme haben ihren Ursprung nahe der Gebirge, wo sie sich durch den Gletscher drängen, oder in Gebieten, wo starker Wind den Schnee vom bläulichen Eis weht. Dort ist die Eisdecke dunkler und absorbiert daher auch mehr Sonnenlicht, was den Schmelzvorgang fördert. Das Wasser bahnt sich in dem entstehenden Flussbett seinen Weg bergab. Erwärmt sich der Kontinent weiter, so wie es Forscher erwarten, werde dieser Prozess ein größeres Ausmaß annehmen, schreiben die Autoren in der Publikation.

Zusammenhalt durch Flüsse

Obwohl der Südpol Eis verliert, scheinen die direkten Effekte des Schmelzwassers, das für gewöhnlich während der Wintermonate friert, kaum Bedeutung zu haben - noch. Denn die Sorge der Gletscherforscher besteht darin, dass sich dies in Zukunft ändern könnte. Der größte Verlust an Eis findet derzeit an den Randgebieten statt, wo sich riesige Eisschelfe aufgrund der Erwärmung des Ozeans lösen. Als dramatischstes Beispiel führen die Forscher das Larsen Schelfeis auf der antarktischen Halbinsel an. In den Jahren 1995 und 2002 brachen riesige Stücke nur innerhalb weniger Tage in den Ozean. Derzeit droht ein weiteres Stück abzubrechen, was jederzeit passieren könnte. Steigt die Temperatur weiter an, könnten solche Ereignisse in diesem Jahrhundert häufiger auftreten.

Andererseits berichtet eine weitere Studie von Koautor Robin Bell von einem Schmelzwasser-Strom am westantarktischen Nansen Schelfeis, der dazu beiträgt, das Schelf zusammenzuhalten. Das flussartige nahezu 50 Kilometer lange Wassersystem war im Jahr 1909 erstmals gesichtet worden. Seither scheint es seine Stabilität gehalten zu haben. Auch an anderen Stellen könnten Vorgänge wie diese von Bedeutung sein, so der Polarforscher. Denn "Eis ist dynamisch und komplex und wir haben aktuell noch keine Daten dazu".