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Experiment Kindheit

Von Alexandra Grass

Wissen
Kinder sollen experimentieren, aber nicht wir Eltern mit ihnen, indem wir obskure pädagogische Ansätze verfolgen.
© Fotolia/Andrey Kiselev

Adelstitel, elektronische Babysitter und Machtumkehr - wie die Gesellschaft dabei ist, ihre Kinder zu riskieren.


Unterschiedlichste pädagogische Ansätze prägen die Generationen seit jeher. Lange Zeit dominierte der strenge, autoritäre Ton, darauf folgte die Zeit der liberalen Ansätze bis hin zum totalen Laissez-faire. Heute wird in der Erziehung großteils die Individualität der Kinder hervorgekehrt, was durchaus seine Vorzüge hat. Doch gepaart mit einem umfangreichen Verwöhnprogramm seitens der Eltern droht dieses Experiment zu scheitern. Die Kindheit scheint verspielt zu werden. Viele Fertigkeiten, die gerade in den ersten Lebensjahren gefestigt werden, kommen abhanden - das fängt beim Stiegensteigen an und endet bei der Fähigkeit, auf die Bedürfnisse anderer einzugehen. Das Experiment Kindheit scheint vollends in die Hose zu gehen.

Die fünfjährige Laura wird täglich mit dem Buggy in den Kindergarten gebracht. Um in den ersten Stock zu gelangen, wird der Lift benutzt. Dass sich das Mädchen beim Stiegensteigen schwer tut und sich schlichtweg patschert anstellt, erklärt sich von selbst. Sich selber anziehen war gestern, heute werden die Kinder in Hose, Jacke und Schuhe gesteckt. Dreijährige trinken nach wie vor aus dem Babyfläschchen und werden gefüttert. Selbstverständlich ist es angenehm, das Kind nicht drei Mal am Tag umziehen zu müssen, weil die Mahlzeiten auf dem T-Shirt landen, doch an ihrer Entwicklung wird unsere jüngste Generation damit definitiv gehindert.

Tatsachen waren gestern

Viele der heutigen Eltern nehmen den Kindern Aufgaben ab und sind sich nicht bewusst, dass sie ihren Nachwuchs um Fertigkeiten bringen, betont Uschi, die als Pädagogin in einem niederösterreichischen Kindergarten täglich neue solcher Erfahrungen sammelt. Und dabei handelt es sich nicht mehr nur um Einzelbeobachtungen.

An weiteren Beispielen mangelt es nicht: "Zehn Vorschulkinder wurden vor die Aufgabe gestellt, einen Raben auszuschneiden. Nur zwei von ihnen konnten mit der Schere umgehen und ließen ihren Raben am Ende des Schneidens auch noch als solches erkennen", schreiben auch die beiden deutschen Pädagoginnen Tanja Leisch und Susanne Schnieder in ihrem zuletzt erschienenen Buch "Die Rotzlöffel-Republik. Vom täglichen Wahnsinn in unseren Kindergärten" (Verlag Ecowin).

Und damit sind die Auswirkungen des um sich greifenden Verwöhnprogramms noch lange nicht zu Ende. Denn es gehört auch dazu, Kinder unzählige Entscheidungen selbst treffen zu lassen. Vor Tatsachen gestellt zu werden, war gestern, heute dürfen Kinder selbst wählen. Gehen wir zu Fuß oder fahren wir mit dem Auto? Nehmen wir Paprika oder Gurken? Möchtest du das grüne oder das rote T-Shirt anziehen? Die Eltern richten sich in ihren täglichen Abläufen ganz nach den Kindern.

Kompliziert und mühsam wird es, wenn die Meinung von Mutter und Kind schier auseinander laufen. Sie diskutieren, argumentieren und erklären so lange, bis sie der Ansicht sind, der kleine Prinz oder die kleine Prinzessin habe nun endlich begriffen, dass es doch sinnvoller wäre, beim Spaziergang in den gatschigen Wald die Gummistiefel anstelle der schicken, neu erstandenen Sportschuhe anzuziehen. In vielen dieser Situationen lassen sich die Eltern letzten Endes aufgrund der penetranten Sturheit ihrer Jüngsten kleinschlagen - der Machtkampf ist gewonnen - von wem, ist klar. Klar ist auch, dass ihn wohl schon jeder von uns einmal verloren hat. Doch bekanntlich wird man aus Schaden klug.

Dennoch tendieren viele der heutigen Eltern dazu, ihre Kinder überzeugen zu wollen statt sie einfach vor Tatsachen zu stellen, mit denen sie umzugehen haben. Ihnen werden Entscheidungen abverlangt, die früher ausschließlich die Eltern getroffen haben. Als Mütter und Väter lassen wir uns nämlich immer mehr dazu verleiten, unsere Kinder als kleine Erwachsene zu sehen, anstatt ihnen ihre Kindheit zuzugestehen.

"Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass wir jeden Tag eine fünfstellige Zahl an Entscheidungen zu treffen haben. Die Neurobiologie zeigt aber auch, dass wir nur eine bestimmte Anzahl sinnvoll verarbeiten können. Es entsteht ein Gefühl der Überforderung", schreiben die Autorinnen. Diese Überforderung schwappt damit auch auf die Kleinsten über.

Kopflastige Bildung

Diskussionen, Argumentationen, Beteuerungen, Fragen, Antworten - oft auch Tränen. Das ist Stress pur für alle Beteiligten und alles nur, weil ganz normale Handlungen nicht mehr einfach nur ausgeführt werden. Das Ergebnis ist logisch: Die Kinder machen, was sie wollen und wann sie wollen, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer. Sie lernen, dass die Welt sich nur um sie selbst dreht. "Leider werden sich auf diese Weise jedoch eine ganze Menge Nervenzellen nicht bilden, die dafür zuständig sind, dass dieser Mensch als Erwachsener auf angemessene Weise mit seinen Mitmenschen umgeht", heißt es im Buch.

Hinzu kommt, dass wir in einer Zeit leben, in der die kopflastige Bildung weit vor der Herzensbildung steht. In den Kindergärten und Schulen machen wir aus unseren Jüngsten etwa "Klimapolizisten" oder "Mülldetektive" und stellen schon in der Kindheit Bescheinigungen für die Teilnahme an Projekten aus, statt dem kindlichen Spiel Raum und Zeit zu schenken, kritisieren die Pädagoginnen. Raum und Zeit sind jedoch nötig - nicht nur für die Kreativität, sondern auch für das soziale Zusammenspiel in der Gruppe. Andere wahrnehmen, sich ihrer annehmen, andere Meinungen zulassen - diese Fähigkeiten bilden sich nur in der sozialen Interaktion heraus - übrigens auch beim Brettspiel.

Doch "Mensch ärgere dich nicht" war gestern, heute sind Apps angesagt - bei Eltern und Kindern. "Über die Bedeutung denkt niemand nach", urteilt Uschi. "Kinder können keine Brettspiele mehr spielen, weil das macht keinen Lärm und gibt kein Feedback", ist die Pädagogin überzeugt. Bei Apps hingegen bekommt das Kind immer eine Rückmeldung, zumeist ist diese akustischer Natur und selbstverständlich positiv. Verlieren muss halt auch gelernt sein. Geht der Umgang damit verloren, verlieren Gesellschaftsspiele an Attraktivität. Eine Zeitlang ist es okay, wenn ausschließlich die Oma beim "Uno"-spielen verliert. Doch irgendwann ist es an der Zeit, Niederlagen einstecken zu können. Das Leben hat leider genug davon zu bieten.

Zu beobachten ist zudem eine überhandnehmende Nutzung der neuen elektronischen Medien. Fernseher war gestern, heute sind es Smartphone und Tablet, die zur Unterhaltung der Jüngsten dienen - und das allerorts. Es mag schon praktisch sein, im Restaurant in Ruhe speisen zu können, während der Nachwuchs mit der interaktiven Spielewelt beschäftigt ist. Es kann auch entspannend sein, die Kinder nach einer anstrengenden Arbeitswoche am Wochenende vor der Spielekonsole ruhig stellen zu können. Ein "Mir ist langweilig!" droht gar nicht mehr aufzukommen. Ein "Such dir was zum Spielen!" war gestern, heute wird einfach das Smartphone, weil immer dabei, aus der Tasche gezückt.

Wir mussten uns als Kinder Gedanken machen, womit wir uns beschäftigen könnten. Die sogenannte intrinsische Motivation - also jene Motivation, die aus uns selbst erwächst, und auch aus der Langeweile heraus - ist zum Fremdwort geworden. Doch ist es gerade sie, die als Voraussetzung für kreative Leistungen gesehen wird.

Wir stehen also vor der Situation, dass sich unsere Jüngsten zu empathielosen und körperlich unreifen Rotzlöffeln entwickeln, wenn wir ihnen als Erwachsene nicht Begleitung, Begrenzung, Orientierung und Vorbild sind.

sachbuch

Die Rotzlöffel-Republik -

Vom täglichen Wahnsinn

in unseren Kindergärten

Tanja Leitsch, Susanne Schnieder;

Ecowin; 232 Seiten; 20 Euro