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"Der Albtraum der totalen Transparenz"

Von Stefan Lessmann und Eva Stanzl

Wissen
Ein Lächeln öffnet alle Türen - im Internet und auf dem Smartphone. Gesichtserkennung könnte die Gesellschaft entscheidend verändern.

Das neue iPhone von Apple läutet so etwas wie ein neues Technologie-Zeitalter ein - jenes der Identifikation über Gesichtserkennung.


Das Antlitz ist ein Kunstwerk der Natur. Schon für Neugeborene ist es faszinierender als alles andere, wir Menschen erkennen einander am Gesicht. Die einzigartige Visitenkarte eines jeden ist entscheidend für Beziehungen, ohne sie gäbe es keine komplexen Gesellschaften. Denn mit Gesichtsausdrücken vermitteln wir, was wir meinen, vielleicht aber nicht sagen (können). Gefühle stehen uns ins Gesicht geschrieben - ob wir nun vor Scham erröten oder vor Ärger Zornesfalten aufziehen, von Herzen lachen oder vor Rührung weinen, oder ein aufgesetztes Lächeln präsentieren. Ob im Büro oder im Restaurant, im Gerichtssaal oder im Schlafzimmer: Wir deuten stets die Mimik unserer Mitmenschen - dies ist ein Teil der angeborenen Intelligenz des Menschen.

Nun sollen aber auch Maschinen in Gesichtern lesen. Künstliche Intelligenz (KI), die nichts empfindet, soll in der Mimik sichtbare Gefühle festhalten, sezieren, analysieren und zu Datenmaterial verarbeiten, aus dem sie Rückschlüsse über Charakter, Absichten, Scham, Freud und Leid - kurz unser Wesen - zieht.

"Dein Gesicht ist dein Passwort", verspricht der Apple-Konzern für das neue iPhone X, das im November auf den Markt kommen soll. Es entsperrt sich - noch bequemer, wie es heißt - durch ein Lächeln seines Eigentümers. Die dahinterstehende Software FaceID verspricht einen effizienteren Datenschutz: Nur, wer das Gerät erworben hat, kann sein Antlitz von einem Infrarot-Scanner von allen Seiten an tausenden Punkten vermessen lassen. Der Algorithmus merkt sich die Punkte und lernt mit der Zeit auch dazu, wie der Nutzer mit und ohne Brille, mit und ohne Bart oder Hut, sommerlich braun oder winterlich fahl bei Tag und bei Nacht aussieht. Um dem Ganzen eine charmante Note zu geben, hat der Konzern auch bewegte Emojis, genannt Animojis, entwickelt. Sie sollen die Mimik spiegeln und übersetzen. Wer also seinem Geliebten per Telefon einen Kuss schicken will, kann dies per Animoji tun: Der Geliebte erhält den Kuss quasi als Karikatur.

Technische Anfangsprobleme

Freilich berichteten Test-User bereits zwei Tage nach der Präsentation des neuen Geräts von technischen Anfangsschwierigkeiten. FaceID habe zwar zuverlässig reagiert, heißt es etwa vom Fachmagazin "Wired". Jedoch sei das Gerät hochzuheben, um die Gesichtserkennung auszulösen, was diese Form der Identifikation langsamer und mühsamer mache als Passwörter oder Fingerabdrücke es sind. Wenn diese Probleme allerdings gelöst werden können, könnte FaceID zur "Normalisierung von Gesichtsscans" betragen, warnt Whistleblower Edward Snowden.

Doch was genau bedeutet das? "Gesichtserkennung hat in gewissen Bereichen schon jetzt tief greifende technologische Veränderungen hervorgerufen", erläutert Tarek Besold vom Digital Media Lab der Universität Bremen. Dazu zählen Sicherheit, Überwachung, Ausweiskontrollen mit biometrischen Gesichtsscans oder die Erfassung von Personen mit Kameras im öffentlichen Raum für polizeiliche Ermittlungen. "Ob sich die Gesichtserkennung jedoch als neuer Standard für Zugangsmechanismen etablieren wird, hängt davon ab, wie gut diese Systeme letztlich funktionieren", schränkt er ein.

Als experimentierfreudig erweist sich hier China. Die Apple-Software FaceID ist ein Produkt von Megvii Technology (kurz für "Mega Vision"). Das Internet-Startup für Gesichtserkennungs-Technologien ist der Ansicht, dass das Internet mehr und mehr kommerzielle und soziale Funktionen übernehmen wird und die Gesichtserkennung dabei ein Teil der Infrastruktur werden muss.

Fast 90 Prozent der 200 prominentesten Internet-Firmen in China nutzen FaceID, gab jüngst Megvii-Chef Qi Yin bekannt. Während sich europäische Gemüter an der Debatte um die Abschaffung des Bargelds erhitzen, ist "Paying with a smile" im Reich der Mitte bereits gang und gäbe - zumindest unter Gutverdienern. Keine Scheine, kein PIN-Code und kein langwieriges Eintippen der Kreditkartennummer mehr - ein Blick aufs Telefon genügt und die Transaktion ist durchgeführt.

Das Gesicht als Ausweis

Millionen von Chinesen weisen sich aus, indem sie ihr Gesicht hinhalten - beim Zugang zum Büro, beim Einchecken von Flügen, Eröffnen von Bankkonten und Abschluss von Kreditverträgen. Betreten etwa Mitarbeiter des E-Commerce-Riesen Alibaba in Shenzhen ihr Arbeitsgebäude, müssen sie keine ID-Karte mehr durch ein Lesegerät ziehen, sondern nur einen Blick in eine Kamera werfen. Auch auf Bahnhöfen gleicht ein Gesichtsscanner die Zugtickets mit dem Personalausweis ab. Und in Hangzhou, einer Stadt westlich von Shanghai, werden die U-Bahnen mit Gesichtserkennung überwacht, berichtet das US-Magazin "Technology Review". Wenn Verdächtige von der Kamera erfasst werden, schlägt das System Alarm - egal, ob die Person tatsächlich schuldig ist oder nicht. In diesem Sinne schafft das System seine eigene, Big-Brother-artige Wirklichkeit - die allerdings nicht immer der Wahrheit entspricht. Genau hier liegen die Gefahren der neuen Technologie.

"Das Problem an diesen Algorithmen ist, dass sie vorverurteilen", hebt Mark Coeckelbergh, Professor für Medien- und Technikphilosophie an der Universität Wien, hervor. "Die Schlüsse, die gezogen werden, beruhen auf statistischem Datenmaterial: Alle Gesichtserkennungssysteme arbeiten unvermeidlich mit Wahrscheinlichkeiten. Die Menschen werden auf Gesichtszüge, Hautfarbe und alle möglichen Merkmale reduziert, an die sie selbst gar nicht denken."

Das Aussehen können wir nicht beeinflussen. Werden wir künftig verurteilt werden, weil wir entsprechend aussehen? Werden wir Informationen preisgeben, von denen wir gar nicht wissen, dass sie uns angeblich ins Gesicht geschrieben stehen? Laut einer US-Studie könnte ein solches Szenario durchaus eintreten. Yilun Wang und Michal Kosinksi, Experten für den Forschungszweig der Psychometrie, wollten zeigen, dass das Gesicht mehr Informationen über sexuelle Orientierung offenbart, als der Mensch überhaupt wahrnimmt. Die Forscher sammelten 35.000 Fotos von 14.000 Personen, die in einer Dating-Plattform auf Partnersuche waren und Informationen zu ihrer sexuellen Orientierung bereitgestellt hatten.

System mit Vorurteilen

Ein Algorithmus extrahierte aus den Fotos optische Merkmale, die einen "Gesichtsabdruck" (ähnlich einem Fingerabdruck) bildeten. Diese wurden in eine Gesichtserkennungs-Software gespeist, die, wie es heißt, "typische" Gesichtszüge erkannte: Demnach wirkten Schwule im Vergleich zu heterosexuellen Männern weiblicher, Lesben analog männlicher und hätten Homosexuelle eher kleinere Kiefer und Kinne, dünnere Augenbrauen, längere Nasen und größere Stirnen, bei Lesben sei es umgekehrt. Während die Software bei der Zuordnung der sexuellen Orientierung in bis zu 91 Prozent der Fälle richtig lag, lagen befragte Menschen in fast der Hälfte der Fälle daneben. Kritiker merken an, dass die Studie nur bei Menschen kaukasischer Herkunft durchgeführt worden und somit von beschränkter Aussagekraft sei. "Missbrauchsrisiken hängen allerdings in erster Linie von der Verwendung der Ergebnisse ab", betont Tarek Besold. Die Daten in den Händen von Ländern, in denen Homosexualität mit dem Tod bestraft werden kann, könnten für Betroffene fatal ausgehen.

Gefahren des Missbrauchs

Auch andere Ebenen von Diskriminierung sind denkbar. In Zeiten, in denen Algorithmen Krankheiten aus Einträgen in Sozialen Netzwerken auslesen, wäre es kaum verwunderlich, wenn sie einem Erkrankungen auch ansehen könnten. Versicherungskonzerne, die über Apps auf Handydaten zugreifen, könnten ihre Prämien erhöhen, wenn die Gesichter von Nutzern sich verändern. Weiters könnten Partnerschaften gar nicht erst zustande kommen, wenn es Gesichtszüge für geringe Fruchtbarkeit gäbe. Kennenlernen könnte seinen Reiz verlieren, wenn eine Analyse den Befund "schlechte Gene" ausspuckt. Das Risiko einer Begegnung würden dann wohl immer weniger Menschen eingehen.

Chinas Regierung legt eine Datenbank ihrer Bürger mit Gesichtsmerkmalen an, und in den USA hat das FBI Zugriff auf Fotos von etwa der Hälfte der Amerikaner. Der Gesetzesgeber hat eine mächtige Waffe gegen Kriminelle in der Hand, die die Privatsphäre enorm einschränkt. Auch die eigene Alltagsgestaltung könnte einem auf den Kopf fallen - etwa, wenn Gesichtserkennungssysteme alle Besucher von Autosalons ausmachen würden, um personalisierte Werbung zu verschicken.

Dass wir das alles offenbar nicht so wirklich wollen, zeigen erste Schminktipps im Internet, mit denen man angeblich tarnkappenartig durch den Radar der Systeme schlüpft. "Wer die Gesichtserkennung verbessert, muss damit rechnen, dass sie auch vom Militär und im Krieg eingesetzt werden kann, um uns Menschen zu töten", sagt Mark Coeckelbergh. Wenn alles - Intelligenz, potenzielle Kriminalität, sexuelle Orientierung oder sogar Gedanken - vom Gesicht abgelesen werden könnte, "dann wäre das der Albtraum der totalen Transparenz".