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Depression als Chance?

Von Christa Hager

Wissen

Das Konzept der Depression wird überbeansprucht: Der englische Psychiater Neel Burton im Gespräch.


Nicht jeder der hustet, muss zum Arzt, heißt es. Depressionen aber gehören behandelt. Obwohl sie nicht wie Infektionskrankheiten durch bestimmte Krankheitserreger zu identifizieren sind. Für das Jahr 2020 prognostiziert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dass Depressionen weltweit den 2. Platz in der Liste der Krankheiten einnehmen werden. Einer ihrer Studien zufolge litten 2015 weltweit rund 322 Millionen Menschen an Depression. Der englische Psychiater Neel Burton kritisiert im Interview mit der "Wiener Zeitung" hingegen, dass mittlerweile ganz normale emotionale Zustände, die zum Leben gehören, als Krankheit abgestempelt werden.

 *****"Wiener Zeitung": Depression wird heutzutage als Volkskrankheit angesehen. Sind tatsächlich mehr Menschen depressiv oder werden mehr Menschen diagnostiziert?
<p>Neel Burton: Depressionen sind in den Industrieländern zunehmend üblich. In Großbritannien und in den USA liegt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person im Laufe ihres Lebens eine Depression entwickelt, gegenwärtig bei etwa 15 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person zum jetzigen Zeitpunkt an Depressionen leidet, liegt bei etwa fünf Prozent. Aber diese Angaben können - je nachdem, wo man die Grenze zwischen "Krankheit" und "Normalität" zieht – variieren. Es gibt bedeutende Unterschiede in der Verbreitung von Depressionen.

Neel Burton, geb. 1978, hat Neurowissenschaften, Medizin,  Philosophie in London studiert und spezialistierte sich auf Psychiatrie. Er ist Mitglied des Royal College of Psychiatrists undhat zahlreiche Bücher verfasst, darunter "Der Sinn des Wahnsinns" - .Psychische Störungen verstehen". Burton lebt und lehrt in Oxford.
© Privat

Worauf sind diese zurückzuführen?
Sie sind geografischer Natur und zum großen Teil auf soziokulturelle und nicht auf biologische Faktoren zurückzuführen. In traditionellen Gesellschaften etwa wird seelisches Leid eher als Indikator für die Notwendigkeit interpretiert, wichtige Lebensprobleme anzugehen, denn als psychische Störung, die einer professionellen Behandlung bedarf. Viele Sprachgemeinschaften, wie etwa in Indien, Korea oder Nigeria, haben nicht einmal ein Wort für "Depression".

Was hierzulande als Depression ausgelegt wird, wird in diesen Gesellschaften stattdessen anhand von Beschwerden wie Müdigkeit, Kopf- oder Brustschmerzen beschrieben.Da Menschen in unserer Gesellschaft weitaus häufiger dem Konzept Depression ausgesetzt sind, interpretieren sie ihre Notlagen eher als Depression. Gleichzeitig fördern Interessensgruppen aktiv die Vorstellung von zuckersüßer Glückseligkeit als einen natürlichen Grundzustand und sehen in menschlichem Leid eine psychische Störung.

Eine Art westliche Zivilisationskrankheit?
Es besteht kein Zweifel darüber, dass es schwere psychische Erkrankungen gibt. Aber ihre Natur bleibt unklar und ein Verständnis für ihren Platz in der Gesellschaft – und ihrer Bedeutung – fehlt immer noch, nicht zuletzt, weil viele Psychiater sich ungern an dieser Debatte beteiligen.Ein wichtiger Grund in der Prävalenz von Depressionen liegt in der Natur moderner Gesellschaften, die zunehmend individualisiert und von traditionellen Werten abgetrennt sind. Für viele Menschen kann das Leben erstickend und entrückt sein, trotz der vielen verschiedenen Menschen rundherum einsam, bedeutungslos und absurd. Indem unsere Gesellschaft ihre Not als psychische Störung kodiert, wird subtil impliziert, dass das Problem nicht in ihr selbst angelagert ist, sondern in den oft als zerbrechlich und versagend bezeichneten Individuen.

Depression ist kein Fall für den Arzt?
Das Konzept der Depression als psychische Störung kann für schwerere bis schwere Fälle, die behandelt werden müssen, hilfreich sein. Aber das gilt wahrscheinlich nicht für die Mehrzahl der Fälle, die meist mild oder kurzlebig sind und als zur menschlichen Natur zugehörig interpretiert werden können.

Viele verwenden den Begriff Depression, um sich auf normale Enttäuschungen oder Traurigkeit zu beziehen. Das Konzept der Depression wird somit als psychische Störung, also als eine biologische Erkrankung des Gehirns, unnötig überbeansprucht, indem alle Arten des menschlichen Leidens umfasst werden.

Ist es nicht gefährlich, seelische Not herunterzuspielen?
Indem man die Möglichkeiten betonen, die psychische Störungen beinhalten können, spielt man das Leiden durch psychische Belastung nicht herunter.. Man bietet vielmehr Licht am Ende des Tunnels an, ermöglicht Unterstützung, Empowerment und zeigt einen Weg, der auf wirkliche und dauerhafte Besserung abzielt.

Werden Traurigkeit oder Rückzug ausschließlich als psychische Störung oder als chemisches Ungleichgewicht im Gehirn gesehen, hindert das daran, Probleme und Lebenskrisen als Wurzel unseres Stresses zu identifizieren und anzusprechen. Viele Menschen ziehen eine solche Reduktion einer Auseinandersetzung mit existentieller Angst vor.

Stimmen Sie zu, dass heutzutage die Gründe für psychische Störungen weniger wichtig sind als der Konsens darüber, dass es eine Krankheit ist?
Die Gründe sind wichtiger als die Diagnose, denn sie weisen den Weg zur Genesung. Gleichzeitig kann eine Diagnose helfen, die Ursachen der Erkrankung herauszufinden, um damit beispielsweise den Betroffenen eine Psychotherapie ermöglichen. Allerdings führt eine Diagnose nur allzu oft zu einer Verschreibung von Antidepressiva, die den Eindruck erwecken kann, dass die Ursachen biologisch sind – womit die wahren Ursachen eben nicht identifiziert und behoben werden können. Darüber hinaus wird eine Diagnose mit Schwäche und Stigma assoziiert, während Depression in vielen Fällen einfach der menschlichen Natur entspringt.

Auch die Antipsychiatrie hat die psychiatrische Diagnose als nicht objektiv kritisiert.
Die Antipsychiatrie entwickelte sich in den 1960er und frühen 1970er Jahren. Sie entstand aus der Schwierigkeit, psychische Störungen zu definieren und zu diagnostizieren. Der Psychiater Thomas Szasz etwa meinte, dass das Etikett schwerer psychischer Störungen, insbesondere Schizophrenie, nur ein Versuch wäre, sozial unerwünschtes Verhalten zu behandeln und damit zu kontrollieren. Ihm zufolge sei "Schizophrenie" nicht anders als ein soziales Konstrukt, als ein geeignetes Etikett für eine Art von Denken und Verhalten, das die Gesellschaft als unangenehm oder zersetzend empfindet.

Also eine Pathologisierung gesellschaftlicher Missstände?
Michel Foucault bezeichnete "Wahnsinn" als soziales Konstrukt und die "Behandlung" als verschleierte Form der Bestrafung, wenn von sozialen Normen und Erwartungen abgewichen wird.Eine solche Sichtweise ist sicherlich verlockend. Aber die Ansprüche, dem Patienten zu helfen, wurden aber zunehmend zersetzt durch die Abneigung der Antipsychiatrie, die Not und das Leiden vieler Menschen mit schwerer psychischer Störung anzuerkennen, sowie das ganz reale Risiko, das sie selbst für ihre Sicherheit darstellen.

Was ist von der Antipsychiatrie geblieben?
Anders als Foucault oder Szasz argumentierten die Psychiater RD Laing, Silvano Arieti und Theodore Lidz, dass psychische Störung eine nachvollziehbare Reaktion auf unmögliche Forderungen der Gesellschaft seien. Laing stellte elf Fallstudien von Menschen mit einer Diagnose von Schizophrenie vor und argumentierte, dass jeweils der Inhalt ihrer Aussagen und Handlungen im Kontext ihrer jeweiligen Lebenssituation überzeugend und aussagekräftig seien. Er leugnete nie die Existenz psychischer Störungen, sondern betrachtete sie einfach in einem radikal anderen Licht als seine Zeitgenossen. Für Laing war der Inhalt der psychotischen Erfahrung einer Person in eine rätselhafte symbolische Sprache gehüllt, die interpretiert und durchgearbeitet werden kann, anstatt sie als bedeutungsloses Charakteristikum einer Not oder Krankheit abzutun. So gesehen können Psychosen mit Wachträumen verglichen werden - oder allzu oft mit Albträumen.

Indem er dem Patienten dabei hilft, die psychotische Erfahrung zu verstehen, kann ein Psychiater helfen, dass sich der Patient weniger allein und entfremdet fühlt, die Quelle seiner Not erkennt und anspricht und dabei wichtige Einblicke in sich selbst zu gewinnen – sowie ins Leben allgemein. Mit anderen Worten: Der Psychiater kann eine psychotische Episode in eine transformative und therapeutische Reise umformen, ähnlich der, die ein Medizinmann oder der Schamane unternimmt.

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Seit der ersten Veröffentlichung des DSM (Diagnostic and Statistic Manual of mental Disorders) im Jahr 1952 ist die Anzahl der Arten von psychischen Erkrankungen von 60 auf fast 400 angewachsen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass damit einhergehend auch die Zahl der Menschen mit Depressionen rasant ansteigt. So sind einer europaweiten Studie des deutschen Psychologen Hans-Ulrich Wittchen zufolge 38 Prozent der Europäer psychisch gestört - das sind in etwa 165 Millionen Menschen. Die Ergebnisse der Studie aus dem Jahr 2012 wurden in der Fachzeitschrift Neuropsychopharmacology veröffentlicht und basiert auf einer drei-jährigen Untersuchung von Daten aus Studien an 500 Millionen Menschen in 30 europäischen Ländern. Demnach litten fast 40 Prozent der 500 Millionen Probanten an 100 psychischen oder neurologischen Störungen von Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Depression Drogenabhängigkeit und Demenz.

Zum Thema siehe auch: Das Janusgesicht der Melancholie

Website von Neel Burton