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Zurück zur Wurzel

Von Eva Stanzl

Wissen
© fotolia/FreeProd

In Tirol werden Wirkstoffe aus dem Reich der Pflanzen analytisch untersucht - der Markt für die Natur-Arzneien ist riesig.


Anna und Philippine Welser waren praktisch veranlagte Frauen. Blumen, Früchte, Gräser, Sträucher und Bäume ordneten sie nicht nach botanischen Gesichtspunkten ein, sondern nach deren Wirkung auf die Gesundheit. Zwischen 1560 und 1570 legten Mutter und Tochter ein 129 Seiten dickes Arzneimittelbuch an. Es ist eine Sammlung von Rezepten für Mittelchen gegen sämtliche Krankheiten, von Ohrenschmerzen und Husten über Augenentzündungen und Magenschmerzen bis hin zu Verstopfung, Migräne, Fieber und Zahnweh. Gegen Halsweh empfahlen sie etwa, "zwei Löffel Rosenwasser, zwei Löffel gebranntes Wehgraswasser, einen Löffel Nussschalensaft und einen Löffel Maulbeersaft" zu mischen und die Lösung "wohltemperiert und warm am Tag dreimal zu gurgeln".

All dies ist in Karin Schneider-Ferbers Buch "Philippine Welser: Die schöne Augsburgerin im Hause Habsburg" zu erfahren, auch dass das Arzneimittelbuch heute ein Teil der Sammlung Ambras ist. Philippine Welser lebte mit ihrem Ehemann, dem Landesfürsten von Tirol Erzherzog Ferdinand II., auf Schloss Ambras. Mit ihrer Fachkundigkeit verhalf die bayerische Patriziertochter der Stadt Innsbruck im Herzen der Alpen gewissermaßen zu einer pflanzenheilkundlichen Tradition.

Wo einst in Mörsern Kräuter zerstoßen wurden, werken heute Zellbiologen und Chemiker. Mit Massenspektrometern und Hochdruck-Flüssigkeitstomographen prüfen sie Enzian, Schlüsselblume & Co. auf Stängel und Stempel, zerlegen Wurzel-Extrakte in ihre Bestandteile und träufeln die Destillate auf Zellkulturen. Sehr vereinfacht könnte man sagen, die Zellkulturen sind "krank" - haben Symptome von Halsweh, Schnupfen oder Bauchweh. Am Austrian Drug Screening Institute (ADSI) in Innsbruck testen Wissenschafter, welche Stoffe aus der Natur sie wieder "gesund" machen. Pflanzen-Extrakte, die sich als spezifisch wirksam erweisen, kommen für klinische Tests infrage.

Gut gegen Migräne und Husten

Das ADSI ist das weltweit erste Forschungsinstitut zur zielgerichteten Suche nach medizinischen Wirkstoffen aus der Natur. Es vereint zwei Welten: die medizinische Hochtechnologie, die auf mikroskopischer Ebene nach individuell zugeschnittenen, synthetischen Therapien sucht - und die Rückkehr zu den Ursprüngen in Form von pflanzlichen Wirkstoffen. Das Ergebnis ist eine Natur-Apotheke mit dem wissenschaftlichen Nachweis der Schulmedizin. Jede Kapsel eines pflanzlichen Arzneimittels, das als solches verkauft wird, muss exakt dieselbe Menge des gleichen Wirkstoffs enthalten.

"Das Vertrauen in Naturstoffe und die Nachfrage nach Produkten mit pflanzlichen Wirkstoffen steigt seit Jahren. Da die Erzeugung aber im Gegensatz zu synthetisch hergestellten Produkten natürlichen Schwankungen unterliegt, sind Qualitätsstandards für die Entwicklung und die Produktion dieser Stoffe besonders wichtig", sagt Günther Bonn, Leiter des Instituts für Analytische Chemie der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck. Zusammen mit Lukas Huber vom Institut für Zellbiologie der Medizinuni Innsbruck und Michael Popp, Chef des deutschen Biotech-Unternehmens Bionorica Research, hat Bonn das ADSI gegründet. Seit seiner Eröffnung 2012 wurden hier an die 150 Gewächse analysiert und nach ihren Wirkstoffen kategorisiert. "Wir machen keine Homöopathie und keine Tees, sondern wir schaffen mit Testsystemen die Basis für Studien und die Zulassung von Medikamenten", erläutert Bonn.

Phytopharmazie heißt die Fachrichtung, die sich der Erforschung und Herstellung von Arzneimitteln aus pflanzlichen Wirkstoffen widmet. Der Markt ist enorm. Er betrifft nahezu alle Erkrankungen bis zu gewissen Stadien - von Migräne (Mutterkraut) über Husten und Schnupfen (Echinacea, Thymian, Eibisch) bis zu Entzündungen (Salbei), leichteren Depressionen (Johanniskraut) und Schmerztherapie (Cannabis). Mehr als die Hälfte aller auf dem Markt befindlichen Arzneistoffe sind Naturstoffe, Naturstoffderivate oder haben Vorbilder in der Natur, sagt Bonn. Er räumt ein: "Die Phytopharmazie ist aber kein Allheilmittel. Es gibt eine ganze Reihe von Krankheiten, wo strenge Mono-Präparate nötig sind, etwa in der Krebstherapie. Auch wenn nur ein Antibiotikum hilft, sollte es eingenommen werden." Besonders wirkungsvoll seien Phytopharmaka zur Vorbeugung von Erkrankungen.

Auf einem Feld in der Gemeinde Rudmanns im niederösterreichischen Waldviertel stehen die Schlüsselblumen in Reih’ und Glied. Im Auftrag des phytopharmazeutischen Unternehmens Bionorica wurden sie nach einer Norm ausgesetzt, um so gut wachsen zu können wie irgend möglich. Schlüsselblumenblüten enthalten Saponine, Flavonoide und ätherisches Öl, die Wurzeln Triterpensaponine und seltene Zucker. Die Extrakte erleichtern das Abhusten und werden gegen Erkältungen mit verschleimtem Husten und Schnupfen verschrieben.

Für den Anbau sei die kleine gelbe Blume aus der Gattung der Primeln jedoch kompliziert, weiß Gerhard Höbart zu berichten. Der Landwirt baut Schlüsselblumen in Kulturen an. "Die Bodenvorbereitung und Pflanzung muss sehr präzise sein", erklärt er in einem Fachartikel im Kundenmagazin "Seeds". Denn die Primel steht in Konkurrenz zu Unkraut und reagiert empfindlich auf Staunässe. Hat sie sich jedoch einmal festgewachsen, kann sie bis zu sieben Jahre auf dem Feld verbleiben.

Produktive Primeln

Und so wächst die Schlüsselblume in der Nähe von Zwettl in langen Bahnen zwischen Kartoffel- und Weizenfeldern und wird jedes Jahr zum optimalen Zeitpunkt geerntet. Für Bionorica ist das dann, wenn die Wirkstoff-Konzentration am höchsten ist. Um herauszufinden, ob es schon so weit ist, werden die Blätter der Pflanze mit Infrarot bestrahlt. Jeder Inhaltsstoff zeigt sich in einem Bereich des Spektrums während des Wachstums. Die Grundlagen dafür wurden ebenfalls in Tirol geschaffen. "Wir haben Pflanzen im Labor wöchentlich auf ihre Inhaltsstoffe analysiert und den optimalen Zeitpunkt in die Geräte eingeeicht", erklärt Bonn. Das Ergebnis sind Zeitkurven der Konzentration jener Inhaltsstoffe, die etwa in das Kombinationspräparat Sinupret einfließen.

Um pflanzliche Stoffe und deren Anwendung ging es auch bei der Konferenz "Phytovalley Tirol" vor wenigen Wochen in Seefeld. Es war dies die erste österreichische Tagung für Naturstoffe im Hinblick auf Pharmazie und Kosmetik und als solche so etwas wie eine Elefantenrunde der kompetentesten Akteure der Branche. Tirol beherbergt nicht nur ADSI und Bionorica, sondern auch andere Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen, die natürliche Wirkstoffe für medizinische und kosmetische Produkte erforschen. Das an der Universität Innsbruck kürzlich gegründete Michael-Popp-Institut widmet sich mit zwei Stiftungsprofessuren und 20 Wissenschaftern neuen Grundlagen in dem Bereich.

Was die Schlüsselblume werden könnte, ist die Olive schon heute: Mit einer Ölproduktion von zwei Millionen Tonnen im Jahr ist sie ein Wirtschaftsfaktor in Europa. Schon in der Antike galt Olivenöl aber nicht nur als wohlschmeckend, sondern auch als gesund. Seine bitteren Stoffe dienen der Abwehr von Fressfeinden - ihre Konzentration in der Frucht ist kurz vor der Ernte am höchsten. Es gibt auch Hinweise, dass die bitteren Moleküle namens Polyphenole eine entzündungshemmende Wirkung haben. Ob Olivenöl vorbeugend gegen Diabetes, Bluthochdruck oder Herzkreislauferkrankungen wirken könnte, wird durch ein internationales Forscherkonsortium mit Innsbrucker Beteiligung untersucht.