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"Digitalisierung stabilisiert Verschwörungstheorien"

Von Eva Stanzl

Wissen

Der deutsche Soziologe Harald Welzer über die Gefahren der Digitalisierung für die Demokratie.


"Wiener Zeitung": Unsere Zeit ist in einer Hinsicht "düsterer als das Dritte Reich", denn heute gibt es keine Nischen mehr. Alle sozialen Felder sind "taghell ausgeleuchtet", das Private droht zu verschwinden. Populisten dominieren immer stärker den öffentlichen Diskurs, liberale Ansätze scheinen weggewischt: Das sind die Grundaussagen Ihrer letzten beiden Bücher. Wie viel Zeit geben Sie der Demokratie?

Harald Welzer: In meinem Buch "Die smarte Diktatur" thematisiere ich die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Demokratie. Wir haben alle gelernt, dass der Holocaust nicht zu vergleichen ist, aber das wird gern damit verwechselt, dass man auch den Nationalsozialismus nicht vergleichen soll. Wegen der Art und Weise, wie totalitäre Gesellschaften zustande kommen, halte ich das aber für falsch. 1933 hätte sich die deutsche Mehrheitsbevölkerung nicht vorstellen können, dass man jüdische Menschen aus ihren Häusern treiben und deportieren würde - nur acht Jahre später fand sie das normal. Die Realitätsbewertung hatte sich komplett verändert, und zwar ohne dass jemand nun dachte, er sei unterdessen ein schlechterer Menschen geworden. Das heißt, man hat die eigene Einstellungsveränderung nicht bemerkt. Auch heute haben wir ganz deutliche Verschiebungen in der Bewertung von Ereignissen.

Was bewerten wir heute anders?

Die westlichen Demokratien der Nachkriegszeit sind äußerst stabil: Wir leben seit 70 Jahren in einem System ohne Umbrüche und Krieg, was zur Folge hat, dass jeder die Demokratie als gegeben nimmt. Wir sind auf der Insel der Glückseligkeit, ohne zu merken, dass sie gleichwohl fragil ist. Dabei sehen wir nun erstmals einen Rückgang der Demokratien. Man entscheidet sich für eine andere Form von Gesellschaftlichkeit unter Beibehaltung der kapitalistischen Wachstumswirtschaft. Das Ergebnis lässt sich bereits in China beobachten: Die Digitalisierung dynamisiert den Konsum, aber jetzt gibt es wieder einen maoistischen Herrscher auf Lebenszeit. Die Kombination davon ist das "Social Credit System". Es ließe Hitler und die Gestapo vor Neid erblassen: Über das Smartphone werden das Kauf-, Bewegungs- und Kommunikationsverhalten registriert und nach einem Punktesystem bewertet, das Gratifikationen verteilt oder Sanktionen verhängt. Perfiderweise wird auch das Verhalten von Freunden und Geschwistern bewertet, und das geht in den eigenen Score ein. Wer also einen Alkoholiker zum Bruder hat, hat ein Problem. Das ist das subtilste und brutalste Mittel, Herrschaft auszuüben, denn damit wird jeder zur Gestapo des anderen. Die Erzeugung von Konformität als Großtechnologie zusammen mit einer unveränderlichen Regierung ist der Wahnsinn - ein radikales Gegenmodell zur freiheitlichen Demokratie.

Viele westliche Länder haben Hochkonjunktur bei niedriger Arbeitslosigkeit und wir bauen auf ein funktionierendes Sozialsystem. Trotzdem wählen die Leute gerade hierzulande rechts und destruktive Tendenzen werden stärker. Warum?

Der Bevölkerungsmehrheit geht es so gut wie noch nie, doch die Menschen merken es nicht, wenn es ihnen gut geht. Es herrscht eine Fundamentalverunsicherung darüber, wie es weitergeht, im System vibriert etwas. Niemand kann es benennen, aber junge Menschen erleben, dass ihre Berufsaussichten volatiler werden. Die Geschlechterrollen sind divers, Beziehungen funktionieren nicht - es ist keine Gesellschaft wie in den 1960er Jahren, als klar war, dass man einen Job hat, heiratet und sich - wenn geht - ein Eigenheim kauft. Hinzu kommen globale Risiken und eine Dauer-Skandalisierung, was alles schlecht ist. Es gibt niemanden, der sagt, zu 98 Prozent läuft alles gut. All dies schafft Gelegenheitsstrukturen, die eine Mentalität der Ressentiments politikfähig machen. Der Erfolg der AfD in Deutschland beruht auf einem extrem erfolgreichen Agenda-Setting. Den neuen Rechten ist es gelungen, ihre anti-liberalen Vorstellungen in Koalitionsverträge zu bringen, während Probleme, die für die Weiterentwicklung der Gesellschaft im 21. Jahrhundert relevant sind, nach hinten treten.

Interessiert sich die Mehrheit überhaupt für die Demokratie?

Schon immer befasste sich nur ein begrenzter Teil der Menschen mit Staat und Politik: Solange der Laden läuft, interessiert einen stabilen Teil der Bevölkerung nicht, was läuft und warum es läuft. Unsere Abhörprotokolle mit deutschen Kriegsgefangenen in England zeigen, dass sich der Großteil der Wehrmachtssoldaten null für Politik interessiert hat. Sie fanden Hitler als eine Art Pop-Ikone super, aber ansonsten wussten sie gar nicht, ob sie in einer Demokratie oder Diktatur lebten. Der "Nazi Mind", den die Amerikaner begreifen wollten, war oft ziemlich ahnungslos. Das gilt für heutige Demokratien genauso: Wir wissen nicht einmal, wer Finanz- oder Außenminister ist.

Was sagen Sie zur Neuauflage der deutschen Koalition?

Da bin ich relativ leidenschaftslos. Interessant ist aber, dass es ein halbes Jahr lang keine Regierung gab, aber alles fantastisch lief, weil die Institutionen so gut funktionieren. Aber das sagt niemand, sondern nörgeln gehört zum guten Ton und die Direkt-Medien im Internet sorgen für Dauer-Erregtheit. Wir wissen aus Studien, dass die allermeisten Leute keine Online-Kommentare abgeben und eher den etablierten Medien trauen. Durch das Dauerfeuer der Dauererregten entsteht aber der Eindruck, dass alle ständig aufgeregt und unzufrieden sind.

Was sagen Sie zur #MeToo-Kampagne in den Sozialen Medien gegen sexuelle Belästigung?

Ich finde die #MeToo-Debatte völlig richtig, allerdings wurde der Feminismus nicht erst 2017 erfunden und wahrscheinlich ist die Skandalisierung derzeit auch gar so groß, weil man erwartet hatte, dass mittlerweile weniger Frauen belästigt würden. Die Kampagne wird das Verhalten weiter zivilisieren. Aber dass im gleichen Zug rechtsstaatliche Standards und die Unschuldsvermutung leichtfertig für irrelevant erklärt werden, ist eine Katastrophe. Eine öffentliche Anklage ohne eine juristische Klärung ist absolut unzulässig.

Untergräbt die Digitalisierung die Demokratie?

Die Digitalisierung stabilisiert Verschwörungstheorien, Fake News entwickeln ein Eigenleben und all dies ist schlecht für die Demokratie. Die Digitalisierung ist aber auch ein Beschleuniger des wachstumswirtschaftlichen Kapitalismus. Ich halte sie weder für innovativ noch für disruptiv - das ist nur eine super Reklame, die nachgeplappert wird, aber es ist nicht die Antwort auf die Fragen unserer Gesellschaft, denn das Digitale ist fossil. Es ändert kein Energie-Regime, sondern es beschleunigt alles, was mit fossiler Energie erreicht wurde, und zwar mit einer unfassbaren Dynamik und einem ungeheuren Energieverbrauch. Konsum-Raten, Energieverbrauch und Mobilität gehen nach oben - ich kann nicht sehen, dass die wunderbaren smarten Technologien irgendwie fortschrittlich sind. Gesellschaftstheoretisch betrachtet, sorgen sie für die Fortsetzung des Bestehenden, nur schneller.

"Schmeißen Sie Ihr Smartphone weg!", empfehlen Sie. Das macht so lange frei, bis man eine Telefonnummer sucht. Wie realistisch ist die Umsetzung Ihres Vorschlags?

Sie ist unrealistisch. Viele Menschen sind beruflich dazu gezwungen, ein Smartphone zu haben. Ich selbst habe ein uraltes Handy und bin von vielen Sachen ausgeschlossen. Ich kann an keinem Carsharing teilnehmen, mir kein City Bike mieten und vermutlich bald auch keine Fahrkarte mehr kaufen. Der Zugang zu öffentlichen Gütern wurde im weitesten Sinn dahingehend reguliert, dass die Leute diese Technologien haben sollen. Das hat etwas Perfides - marktwirtschaftlich betrachtet ist es aber klug, Menschen zu zwingen, an dieser Struktur teilzunehmen, denn damit kann man Geschäfte machen. Wenn aber alle Wege kontrolliert werden, gibt es keinen Privatraum mehr. Demokratie setzt die Unterscheidung von privat und öffentlich voraus, denn ich kann nur dann als Markt-Akteur oder als politischer Akteur auftreten, wenn ich einen unzugänglichen Raum habe, in dem ich Strategien entwickle und plane. Wir aber heben die Privatheit auf und damit automatisch auch die Öffentlichkeit. Das ist katastrophal für die Demokratie.

Wo sehen Sie den Ausweg?

Solange wir eine freie Gesellschaft sind, können wir entscheiden - zum Beispiel, was wir tun, wenn Maschinen unsere Arbeit machen. Super Thema an sich, man könnte einen Prozess von radikaler Arbeitszeit-Verkürzung starten und ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Denn endlich haben wir die Möglichkeit einer sozialen Modernisierung der Gesellschaft. Endlich können wir aufhören, Arbeit zu besteuern und stattdessen Abgaben für Maschinen und Kapitaleinkünfte einführen. Selbstbestätigung wäre nicht mehr von der Höhe des Gehalts abhängig. Wir könnten Arbeit von Kontrolle befreien und die Karten völlig neu mischen. Denn der Konsum funktioniert ja deswegen so gut, weil Leute ihre Arbeit scheiße finden und sich dafür belohnen wollen. Wenn andere Parameter eingezogen werden, ist diese sedative Befriedigung nicht nötig.

Zur Person

Harald Welzer geboren 1958 in Bissendorf bei Hannover, ist Soziologe, Sozialpsychologe und Publizist. In seinen jüngsten Büchern, "Die smarte Diktatur" und "Wir sind die Mehrheit", analysiert er Demokratie und Digitalisierung. Harald Welzer ist Mitbegründer der deutschen Stiftung Zukunftsfähigkeit und Herausgeber des Magazins "Futurzwei". Diese Woche referierte er bei Gaisberg Consulting in Wien.