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Warum Frühlingsgefühle dufte sind

Von Eva Stanzl

Wissen

Kein Sinn löst so viele Empfindungen aus wie das Riechvermögen - im Gehirn steht es Gefühl und Gedächtnis am nächsten.


"Riech’ einmal", sagt Rishaad. Er öffnet ein Ölfläschchen und setzt einen Duft frei. "Erinnert dich diese Note nicht an Asphalt nach einem Regen?" Vor dem geistigen Auge erscheinen Tage der Jugend. Das Bild eines Sommerhauses am See fügt sich zu dem unvergesslich frischen Dampf, den die Uferstraße nach einem Regenguss in der Sonne abgibt: hart wie Asphalt, weich wie Erde und Staub, raffiniert wie Teer, aber natürlich wie Wasserdunst. Wach wird auch das Gefühl, 14 zu sein, am Steg in der Nacht den kleinsten Fisch gefangen zu haben und im heißesten Sommer aller Zeiten in den prickelnden See zu springen. Das exotische Öl, das der wertvolle Freund aus seiner Heimat Lahore mitgebracht hat, küsst die Erinnerung wach.

Kein Sinn löst so viele Gefühle aus wie das Riechvermögen. So hebt der Frühling die Laune nicht nur, weil die Tage länger werden, sondern auch wegen seiner Kirschblüten, Maiglöckchen, Veilchen und Rosen. Zu zarten Blütenessenzen mischen sich saftige Aromen des sich aufwärmenden Bodens und die geballte Komposition der Natur regt die Stimmung an - nicht umsonst spricht man von "Frühlingsgefühlen" - die freilich unterschiedliche Ausprägungen annehmen können.

Gerüche, die als übel empfunden werden, lassen noch weniger kalt. Schlecht gewählte Parfums, Schweiß oder Mundgeruch und noch schlimmer eine Mischung von allen dreien schicken die Sympathiewerte in den Keller. Besonders tückisch wird es, wenn ein unangenehmes Erlebnis aus einem Wohlgeruch Gestank macht. Einschlägig geprägt ist etwa Kollege Edwin Baumgartner, dessen Chemie-Lehrer im Gymnasium die geruchsumwandelnde Wirkung von Ester demonstrierte. Je mehr er von der chemischen Verbindung beimengte, desto krasser war seine Hexerei - in diesem Fall wurde dem Duft von Äpfeln der Gestank von Erbrochenem aufgezwängt. Noch heute kann Baumgartner Äpfel nicht riechen - und beim Essen bevorzugt er Birnen.

Alles, was duftet, gibt Moleküle ab. Vom ersten bis zum letzten Atemzug sind wir von Duftmolekülen wie von Staubkörnern umgeben. Steine verbreiten keine Duftmoleküle, deswegen riechen sie nicht. Aber was ist das Riechen, wo findet es statt? Und warum lösen Aromen sogar stärkere Gefühle aus als die Musik, die immerhin das Tanzbein bewegt? Warum können wir uns an Geruchserlebnisse klarer erinnern als an alle anderen Erfahrungen im Leben?

"Der Geruchssinn ist das älteste Sinnes-System in der Evolution. Bevor Lebewesen in den Tiefen des Meeres einander hören und sehen konnten, waren sie in der Lage, einander zu riechen", erklärt Hanns Hatt, Professor für Zellphysiologie der Ruhr-Universität Bochum. Der prominente Duftforscher weiß: Mangels Geräuschkulisse und Licht mussten sich die ersten Wasserbewohner an chemischen Signalen orientieren. Die Nase, das Riech-Hirn und das limbische System für Emotion und Gedächtnisbildung zählen zu den ältesten Arealen des Denkorgans. "Das Gehirn muss nur eine einzige Umschaltung vornehmen, damit ein Duft von der Nase ins limbische System gelangt", sagt Hatt: "Es gibt eine Standleitung von der Nase zu den Gefühlen."

Im Alltag fliegen Duftmoleküle durch die Luft. Wir atmen sie ein. In der Nase erreichen sie die fünf Quadratzentimeter große Riechschleimhaut mit ihren 30 Millionen Riechzellen. "Aus dem Gehirn führen dünne Nervenfäden in die Nase, an deren Ende die Riechzellen sitzen. Sie fungieren somit als vorgelagerte Gehirnzellen", erklärt Hatt. US-Forscher berichteten jüngst, dass sich aus genau diesem Grund neuro-degenerative Erkrankungen durch einen abnehmenden Geruchssinn ankündigen.

Der Geruchsnerv sammelt im Gehirn alle Duftinformationen, die mit jedem Atemzug in der Nase eintreffen, in Form von elektrischen Impulsen, die eine Duftgestalt ergeben. Es entsteht ein für jeden Duft charakteristisches Aktivitätsmuster - Rosmarin etwa hat eine andere Duftgestalt als Salbei. Diese Aktivitätsbilder werden über dicke Kabelstränge ins Gedächtnis- und Gefühlszentrum geleitet, miteinander verknüpft und abgespeichert. Jedes Gefühl beim Riechen gehört fortan zu diesem Duft. Rund 10.000 Düfte können Menschen speichern und wiedererkennen, verbunden mit angenehmen oder unangenehmen Gefühlen. Auf diese Einprägung kann immer wieder zugegriffen werden.

Doch Prägung ist harte Arbeit. Die 350 Duft-Sensoren der Nase werden von unterschiedlichen Aromen angesprochen. "Das Riech-Alphabet hat somit 350 Buchstaben. Duft-Kombinationen können jedoch 200 Buchstaben lang sein", erklärt Hatt. Um eine Vanilleschote von einem Backwerk des Typus Osterlamm zu unterscheiden, muss das Riechorgan die Kombinationen auswendig lernen, so wie Schüler Schillers Balladen. Bei Kaffeeduft springen 80 Duftsensoren auf den Plan, bei Chanel Nummer 5 an die 150.

Je intensiver ein Duft empfunden wird, desto schneller und dauerhafter wird er abgespeichert. Wenn er von einem begehrten oder geliebten Menschen ausgeht, trifft das ganz besonders zu. Dem Lebenslauf eines mit einem phänomenalen Geruchssinn ausgestatteten Parfümeurs folgt Patrick Süskind in seinem Roman "Das Parfum", der auch die Bedeutung von Gerüchen in zwischenmenschlichen Beziehungen erkundet. Der Mörder Jean-Baptiste Grenouille folgt aber nicht nur dem "erregenden Duft" von Frauen, sondern er will mit Parfum die Menschen betören. Das funktioniert konsequent. Am Ende sind von ihm alle so verzückt, dass sie nicht anders können, als ihn auf kannibalische Weise zu verspeisen.

Disziplinierter geht es unter Weinkennern zu. Sie trainieren ihre Nasen auf Duftmuster von Veltliner, Sauvignon Blanc oder Cabernet Franc. Sie beginnen mit Einzelaromen und tasten sich zu komplexeren Kombinationen vor, bis sie schließlich Charakteristika wie etwa "brett" - die stallig-staubige, man könnte sagen etwas mistige Note von Bordeaux - beim Namen nennen. Dabei sind gerade die Namen kniffelig, denn die Sprache kennt nur wenige Begriffe für Duftaromen. Trefflich beschreiben lassen sich komplexe Gerüche eigentlich nur in Bildern. Etwa spricht H. P. Lovecraft, Autor von Horror-Erzählungen, von einem "blasphemischen Geruch", der den Monstern vorauseilt, um anzuvisieren, dass etwas nicht in Ordnung ist.

"Die Verbindung der Zentren für Duft und Sprache ist im Gehirn schwach ausgebildet", betont Hatt. Das darf überraschen, zumal Menschen Geruchssensoren nicht nur in der Nase, sondern im ganzen Körper besitzen. Hatt und seine Kollegen in Bochum erforschen, wo sich Sensoren für Vanille, Zimt oder Schokolade ausbreiten und was sie bewirken. Düfte strömen nämlich auf unterschiedlichste Weise auf den Körper ein. Wer etwa eine Orange isst, isst auch ihre Duft-Moleküle. Sie wandern bis in den Darm, deren Duftsensoren dem Gehirn signalisieren, welche Stoffe es ausschütten soll, um sie zu verdauen. Auch die Haut nimmt Gerüche wahr. Stimuliert man sie etwa mit Sandelholz, teilen sich die Zellen schneller, was die Wundheilung beschleunigt. Das Herz wiederum kann Blutfette "riechen" und ändert die Schlagzahl, um die Herausforderung zu bewältigen. Nun untersuchen die Forscher, ob sich schwere Erkrankungen wie Krebs von Düften beeindrucken lassen.

Bis zu den ersten Ergebnissen werden die Temperaturen hoffentlich steigen. Spätestens dann lohnt es sich, mit offener Nase durch die Welt zu gehen, damit Frühlingsgefühle aufkommen können.