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"Europa braucht einen Kulturminister"

Von Eva Stanzl

Wissen

Europa erfand die Digitalisierung und ist jetzt nur noch Konsument: Diskussion zur Rolle der Logik in der digitalen Welt.


Wien. "Wie konnte es nur passieren, dass wir Modelle in die Welt exportiert haben, von der Demokratie bis zur Technologie, die die ganze Welt nachahmt, und heute den digitalen Entwicklungen hinterherrennen?", fragte der weltberühmte Künstler, Mediendenker und Naturwissenschafter Peter Weibel in der ersten Diskussion der Reihe "Dialogic" der "Wiener Zeitung" und der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft diese Woche in der Wienbibliothek im Rathaus zum Thema "Die Rolle der Logik in unserer digitalen Welt".

"Das ist doch logisch!", heißt es im Alltag, wenn etwas vernünftig, wahr und plausibel ist. "Damit ist ein Merkmal des menschlichen Denkens angesprochen: Korrektes Schlussfolgern, dessen Gültigkeit in der Beziehung von Prämisse und Konklusion liegt: Wenn A, dann B", leitet der Wiener Philosoph Friedrich Stadler die Runde ein. "Vor etwa 100 Jahren wurde die Mathematik logisiert und die Logik mathematisiert. Mehrere Zweige der Logik entwickelten sich", erläutert Karl Sigmund, Professor für Mathematik an der Universität Wien. In der Folge schuf der britische Mathematiker Alan Turing (1912-1954) einen großen Teil der theoretischen Grundlagen für die Informations- und Computertechnologie, die zunächst zu auch zu Kriegsanwendungen führten. Die Philosophie brachte dann auch die Idee eines auf Maschinen ausgelagerten Denkens hervor. "Heute ist die Digitalisierung ungeheuer anwendungsorientiert und hat unser ganzes Leben und unsere Sicht auf die Welt geändert", sagte Sigmund.

"Die heutigen Parallelwelten sind gekennzeichnet durch ein Nebeneinander von Logik, Informatik und Mathematik", ergänzt Stadler. Heute geht es um Mechanisierung, Automatisierung und Anwendungsgebiete für künstliche Intelligenz - wir sprechen von Informationstechnologien und der Zukunft der Arbeit als zweites maschinelles Zeitalter. "Die binäre Logik hat zu Umbrüchen geführt, die sich in der Arbeitswelt, der Robotik, künstlichen Intelligenz, Wissenschaft und Medizin spiegelt." Mobiltelefone, Verkehr, Satelliten, Internet und Social Media seien Merkmale der Wissensgesellschaft, "die in ihrer Dynamik und Dichte als zweite Revolution bezeichnet werden kann. Die digitale Revolution ist irreversibel", sagt der Präsident der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft.

Ist diese digitale Revolution aber nun eine Enttäuschung oder nur eine unerwartete Wendung im Revolutionsgedanken? Immerhin gibt sie dem Einzelnen ja nicht nur mehr Freiheit, sondern sie unterwirft ihn auch zunehmender Kontrolle. Für Peter Weibel, der 1968 an der legendären Aktion "Kunst und Revolution" an der Wiener Haupt Universität teilgenommen hat, überwiegen die Vorteile: "Die Digitalisierung erweitert den Wahrnehmungshorizont, die Wahlfreiheit und damit die Freiheit", meint er. Das Potenzial einer Gesellschaft liege auch in der mathematischen Logik. Nur wenn wir neue Theorien haben, können wir auch neue Anwendungen erfinden. "Allerdings müssen Sie dann anders vorgehen als ich", witzelt er: "1974 habe ich ein Buch geschrieben über die Theorie abstrakter Automaten. Das war ein Fehler. Ich dachte, Probleme rein nur auf dem Papier lösen zu können, während Steve Jobs einfach in seiner Garage wirkliche Computer baute."

Früher existierten Sprache und Dinge getrennt. Heute lassen sich aus Sprache, Bildern und Tönen in Daten verwandeln. "Während man früher aus dem Wort ,Stuhl‘ keinen Stuhl machen konnte, geht das heute im Handumdrehen", erläutert Weibel. Aus Daten werden 3D-Drucke und Handy-Messungen von räumlichen Positionen lassen sich als Objekte darstellen. Das ist der Anfang einer Revolution, die die meisten Menschen noch nicht sehen", so der Professor für Kunst- und Medientechnologie in Wien und Karlsruhe.

Weitgehend unbemerkt bleibt auch, wie Vorurteile, Fake News und Hasspostings ihren Weg ins Herz der Gesellschaft finden. "Stehen Überzeugung und Meinung vor dem Sehen und prägt sie das Verständnis von Realität?", fragt Moderator Walter Hämmerle, Chefredakteur der "Wiener Zeitung", in die Runde. Hilft oder erschwert es uns die Digitalisierung, Sinnloses von Sinnvollem zu unterscheiden?

Ohne Überzeugung keine Wahrnehmung, findet Gabriele Mras, Professorin für Philosophie an der Wirtschaftsuniversität Wien: "In der Philosophie kann man sich den Menschen als Menschen vorstellen, der dauernd kausalen Reizen ausgesetzt ist. Doch wir können uns nicht als wahrnehmende Subjekte verstehen, ohne Überzeugungen zu haben, die in einem Verhältnis zur Welt stehen." Alles, was digitalisiert wird, ist ein Resultat von Überzeugungen. Und diese werden zu Datenstrukturen und binären Codes zugeordnet.

"Computer erlauben es uns, ungeheure Rechenaufgaben schnell zu bewältigen. Die Summe an Informationen verunmöglicht allerdings einen klaren Blick auf einige wenige Fakten", warnt Karl Sigmund. Die Wahrheit in diesem Dickicht, meint wiederum Weibel, liege in formalisierten Systemen: "Wahrheit ist das, was ich beweisen kann, und was ich beweisen kann, kann ich heute berechnen. Da sind wir unterwegs. Überzeugung ist aus meiner Sicht Vergangenheit."

Gibt es Grenzen des in Algorithmen ausgedrückten Gedankens? "Es gibt Gefühle, die man nicht in Sprache ausdrücken kann", setzt Weibel fort. Aber unser Ziel müsse sein, den Horizont dessen, was wir sagen können, zu erweitern. Für diesen Zweck müssen wir keinen Code und keine Partitur mehr erlernen, sondern nur noch auf einen Knopf drücken, um die Musik ertönen zu lassen: "Unsere Ausdrucksmöglichkeiten haben sich enorm erweitert."

Dafür erntet Weibel Widerspruch von Mras: "Würden Sie sagen, das Mobiltelefon weiß, dass es die Darstellung einer Wahrheit ist?" Ihr zufolge ist das Handy kein Beweis für richtige Schlüsse, sondern eine Anwendung von Logik. Für Weibel hingegen funktioniert es nur, weil die mathematische Theorie dahinter stimme.

Hilft die Digitalisierung uns Menschen beim Menschsein und dabei, die Welt um uns herum zu verstehen? "Ich finde die Digitalisierung absolut faszinierend, aber helfen tut sie mir überhaupt nicht", räumte der Mathematiker Sigmund ein. In den Medien fänden sich sogar immer mehr klassische Beispiele von logischen Fehlschlüssen, meinte Mras: "Da hat die Digitalisierung offenbar nicht geholfen."

Energischer Widerspruch von Weibel: Die Beziehung zwischen Objekten, Technik und Umwelt verbessere sich und werde auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten. Jahrhundertelang hätten Europas Denker, Künstler und Wissenschafter die Grundlagen dieses neuen Weltbilds entwickelt; das Ergebnis ist der Siegeszug der Digitalisierung. Dass nun aber die USA und Asien an deren Spitze stehen und Europa nur noch Konsument ist, sei ein großes Versäumnis der Europäer.

"Österreich hat im zweiten Halbjahr die Chance, den EU-Ratsvorsitz auszurichten. Es sollte sich weniger für einen gemeinsamen Finanzminister, der die Krise in der EU vielleicht nur noch weiter vertieft, statt einen Beitrag zur Lösung zu finden, als sich für einen gemeinsamen Kulturminister Europas starkmachen", forderte Weibel. Konkret tritt er für die Gründung von Instituten ein, die sich dem Dialog widmen.

"Wenn wir uns auf unsere gemeinsamen Wurzeln konzentrieren, könnten wir uns an der Gestaltung der Zukunft beteiligen, anstatt die Gestaltung Konzernen wie Google zu überlassen und zu jammern, dass diese den Kleinhandel fertigmachen", sagte der Mediendenker. "Digitalisierung ist eine Kulturtechnik. Aber die Politik macht den Fehler, zu glauben, sie sei mehr oder weniger ein Problem der Autoindustrie. Ein europäischer Kulturminister müsste sich darauf konzentrieren, was man damit machen kann, anstatt zuzuschauen, wie andere eine Art Weltwirtschaft errichten. Wir haben jetzt die Chance, eine neue Renaissance einzuleiten."

Eine Aufzeichnung der Diskussion ist in den kommenden Tagen im Fernsehsender W24 zu sehen.