Wien. Akademie-Vizerektorin Andrea Braidt nannte ihn eine Ikone der Schwulenbewegung und einen Helden der Arbeiterklasse, Andrea Seier, Vorständin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, bekannte ihre Nervosität, denn sie habe nur selten mit Bestsellerautoren zu tun - Didier Eribon durfte über die warme Aufnahme, die ihm gestern in Wien bereitet wurde, geschmeichelt sein.
Mehr als 400 Zuhörer waren am Dienstagabend in die Aula des Ausweichquartiers der Akademie der bildenden Künste in der ehemaligen Wirtschaftsuniversität in Wien-Alsergrund gekommen, um ein Gespräch zu verfolgen, das der bekannte französische Soziologe mit Seier und dem am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie lehrenden Soziologen und Kunsthistoriker Jens Kastner über sein im Herbst auf Deutsch übersetztes Buch "Gesellschaft als Urteil" führte. Der Andrang bestätigte das, was Seier über den in Amiens lehrenden 64-Jährigen sagte: Er sei ein ungewöhnlicher Soziologe, denn sein Werk werde offenbar gelesen, ja sogar gefühlt.
Grundthesen
Die breite Debatte, die sein 2009 in Frankreich und erst sieben Jahre später auf Deutsch erschienenes Buch "Rückkehr nach Reims" ausgelöst habe, sei Ausgangspunkt für "Gesellschaft als Urteil" gewesen, das in mehrerer Hinsicht als Fortsetzung gesehen werden könne, schilderte Eribon und wiederholte seine Grundthesen: Die Klassenfrage sei weiterhin aktuell und spiegle sich etwa in einem die Ungleichheit weiterschreibenden Bildungssystem wieder. "Ich wollte zeigen, wie gewalttätig Gesellschaften sind."
Seine eigene "Rückkehr nach Reims", der Ausgangspunkt seines Buches, war eine Konfrontation mit seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse, für deren nachhaltige Verdrängung er mehrere Beispiele anführte. So habe er sich etwa der Intellektuellen Simone de Beauvoir wesentlich näher gefühlt als seiner eigenen, aus einfachsten Verhältnissen stammenden Großmutter. Als der Verlag für das Cover der Taschenbuchausgabe ein Foto von ihm als Jugendlicher wollte, habe er schließlich widerstrebend ein Bild zur Verfügung gestellt: "Was Sie da sehen, ist aber nur die eine Hälfte des Fotos. Die andere habe ich abgeschnitten. Auf der war mein Vater zu sehen." Für ihn habe er sich noch als Erwachsener geschämt. "Die Rückkehr hat mir auch wieder vor Augen geführt, warum ich damals fliehen musste."
"Mutter" Bourdieu
Seine beiden "Mütter" seien Annie Ernaux und Pierre Bourdieu, dem er unendlich viel verdanke, den er aber dafür kritisiere, dass er beim Vertreten seiner Positionen sich als Person nicht exponieren wollte, um seine eigene Stellung nicht zu gefährden. "Ich dagegen habe mit 'Rückkehr nach Reims' etwas riskiert. Ich habe mich um meine akademische Würde nicht geschert und habe versucht, Grenzen zu überwinden."
Als Kastner von Studenten berichtete, die ihn gefragt hätten, ob die Klassenfrage nicht gar sehr "old school" sei, erzählte Eribon von seinen Erfahrungen mit US-Studenten: "Alle sagen: Wir leben in einer klassenlosen Gesellschaft. Wo leben die, bitteschön, wenn sie nicht wissen, dass es in ihrem Land hungernde und Armut leidende Menschen gibt? Auch in Deutschland sagen die Leute: In unserem Bildungssystem kann jeder studieren. Das ist nicht richtig! Deutschland ist eine Klassengesellschaft. Das zu verleugnen, stärkt bloß die Unterdrücker."
Migranten am untersten Ende
In der heutigen Klassengesellschaft seien Migranten am untersten Ende der Skala angesiedelt. Hier überschnitten sich Klassen- und Rassenfragen. "Wir müssen für sie kämpfen. Wie müssen mit ihnen kämpfen. Wir müssen sie in ihrem Kampf unterstützen." Als Franzose müsse er sich ununterbrochen schämen für den Umgang von Polizei und Regierung mit Migranten. "Man möchte jeden Tag laut schreien."
Für die Kunststudenten unter den Zuhörern hatte Eribon gegen Ende keine frohe Botschaft: Natürlich sei Kunst sehr wichtig, versicherte er. Aber man dürfe sich nichts vormachen: Jede Kunstpraxis finde in einem privilegierten Rahmen statt, der letztlich von der angegriffenen Gesellschaft vorgegeben werde. "Es ist paradox: Du kannst der revolutionärste Künstler sein und letztlich stärkst du mit deiner Arbeit doch das System."
Das habe er auch dem Chef der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, gesagt, der mit Nina Hoss ("eine wunderbare Schauspielerin") "Rückkehr nach Reims" so erfolgreich auf die Bühne gebracht hatte, dass der Abend zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Wie man die Arbeiterklasse auf die Bühne und ins Theater bringen könne, habe dieser ihn gefragt. Ersteres sei einfach, letzteres kaum möglich, habe er ihm geantwortet. "Das Theaterpublikum wird von der Mittelschicht gestellt. Wir müssen unsere Grenzen kennen."