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"Ich schau dir in die Seele, Kleines"

Von Georg Biron

Reflexionen

"Cinema Therapie" heißt der neue Psycho-Trend aus den USA: Seelenärzte behandeln ihre Patienten mit Szenen aus Spielfilmen.


In der Hollywood-Komödie "Liebe braucht keine Ferien" ("The Holiday") von Nancy Meyers beschließen zwei von den Männern enttäuschte Frauen, die Weihnachtsfeiertage möglichst weit weg von zu Hause zu verbringen. Die beiden (Amanda Woods/Cameron Diaz und Iris Simpkins/Kate Winslet) kennen einander nicht, lernen sich aber über eine Haustausch-Plattform im Internet kennen. Die erfolgreiche Amanda aus Los Angeles zieht ins Haus der englischen Journalistin Iris - und vice versa.

Iris ist von der großen Villa und den Hollywood-Stars in der Nachbarschaft sehr beeindruckt. Sie lernt unter anderem den 90-jährigen ehemaligen Drehbuchautor Arthur Abbott (Eli Wallach) kennen und freundet sich mit dem alten Oscar-Gewinner an. Abbott zeigt Iris berühmte Hollywood-Klassiker mit starken Frauen in den Hauptrollen. Die Engländerin ist von den selbstbestimmten Leinwandheldinnen begeistert und beginnt, sich an ihnen zu orientieren. Dadurch gelingt es ihr, ihr eigenes vertracktes Gefühlsleben zu entwirren und sich in einen neuen Mann zu verlieben. Auch für Amanda gibt es in England ein Happy End - mit Graham/Jude Law.

Cameron Diaz, Jude Law und Kate Winslet bei der Weltpremiere des Films "The Holiday" ("Liebe braucht keine Ferien"), in welchem Hollywood-Leinwandheldinnen als Role-Models und Orientierungshilfen dienen.
© James Devaney/WireImage

"Liebe braucht keine Ferien" kostete 85 Millionen US-Dollar und spielte weltweit mehr als 200 Millionen US-Dollar ein. Anlässlich der Premiere schrieb der Hamburger Filmkritiker Christian Buß im "Spiegel": "Dass Meyers in ihre Verbeugung vor dem alten Studiosystem Hollywoods einige hübsche Spitzen gegen die gegenwärtige Wertschöpfungsmaschinerie der Filmindustrie eingestreut hat, zeugt von einer gewissen Selbstironie. So wird hier gegen das Kalkül gewettert, mit dem heute Blockbuster in die Kinos gedrückt werden. Gleichzeitig beweist sich aber eben auch Meyers, deren Komödien über eine Milliarde Dollar eingespielt haben und die auf diese Weise zu Hollywoods ‚leading lady‘ in Sachen Regie avancierte, eine beachtliche Geschäftstüchtigkeit."

In der Zeitschrift "Variety" notierte Justin Chang weniger begeistert, Nancy Meyers wisse ganz genau, was Frauen wollen: ". . . farbenprächtige Schauplätze, noch mehr farbenprächtige Darsteller und eine sentimentale Liebesgeschichte, die die Zuschauerin in den Griff bekommt."

Tatsächlich können sich viele Frauen mit den Problemen von Amanda und Iris identifizieren - und dass es ausgerechnet Szenen aus alten Hollywood-Filmen sind, die sich schließlich auf Iris positiv auswirken, ist ein besonderer Bonus, der auch dem weiblichen Kinopublikum von "Liebe braucht keine Ferien" neue Wege aufzeigt.

"Filme stellen Rollenmodelle zur Verfügung, spenden Inspiration und Hoffnung und bieten neue Lösungen für alte Probleme", schreibt John W. Hesley, ein texanischer Psychotherapeut, der mit seiner Frau Jan den Bestseller "Rent Two Films and Let’s Talk in the Morning" geschrieben hat.

Während darin nur Filme mit positiven Identifikationsfiguren zu finden sind, nehmen aktuelle Lebenshilfe-Ratgeber das Thema Kino eher auf die leichte Schulter und haben nur wenig mit therapeutischen Ansprüchen im Sinn. So widmen sich zum Beispiel die Autorinnen Nancy Peske und Beverly West in ihrem US-Bestseller "The Girl’s Guide to Movies for Every Mood" mit viel Leidenschaft dem Thema "Rache an Männern", was auch der mörderische Plot etlicher Filme ist: "Thelma & Louise", "Extremities" oder "Diabolique". Das Buch von Peske und West wendet sich an "Girls", die ihre Laune mit Heimkino-Abenden heben wollen.

"Ein guter Schmachtfetzen ist wie ein linderndes Tonikum", glauben die Autorinnen. "Bei richtiger Anwendung, in Kombination mit totaler Trägheit und einem obszön fetten Snack, kann er alles kurieren: von einer massiven Identitätskrise über einen Tag, der von einer schlechten Frisur versaut wurde, bis hin zu einem gründlichen Ich-hasse-meinen-Job-Blues." Außerdem seien männliche Leinwand-Helden wie Brad Pitt oder Antonio Banderas auf jeden Fall schmackhaftes Augenfutter für die Frauenwelt.

"Filmszenen faszinieren oder verstören und können den Schlüssel zu verborgenen Traumata oder unterdrückten Sehnsüchten enthalten", weiß der Londoner Therapeut Bernie Wooder, und Martin Silvermann, Psychiatrie-Professor an der New York University, sagt: "Manche Patienten brauchen die Distanz, die eine Filmtherapie schafft." Prof. Stuart Fischoff von der California State University ist davon überzeugt, dass "Filme Barrieren niederreißen können. Sie handeln oft von Themen, die Patienten in der Therapie nicht diskutieren können oder wollen, weil sie zu schmerzhaft sind." Und Maggie Roux, Filmdozentin an der britischen Leeds University, glaubt: "Die große Magie der Filmtherapie liegt darin, einfache Menschen wie Polizisten, Feuerwehrleute und Gefängnisinsassen zum Reden zu bewegen."

Kinofilme zielen vor allem auf die Gefühle - und erreichen sie auch. Mediziner glauben, dass gute Filme die Psyche positiv beeinflussen können. Kino auf großen Leinwänden wirkt. Das Bildformat sorgt für Weitblick. Der Ton saugt einen ins Geschehen. Davon kann sich niemand emotional distanzieren. Filme im Kino sind deutlicher wahrnehmbar, reizvoller und faszinierender als etwa der Blick aufs Smartphone. Menschen mit Depressionen profitieren davon.

"Das Filmgeschehen selbst lässt viele Menschen ihre Sorgen für eine Weile vergessen. Indem man sich in das Schicksal anderer Charaktere hineinversetzt, fühlt es sich schon mal an, als ob man deren Leben führt", ist im Online-Portal ecowoman.de nachzulesen. "In den Handlungen oder den darin vorkommenden Personen spiegeln sich oft auch eigene Problemsituationen. Ein Kinobesuch kann eine Form der Therapie darstellen, die seelische Schmerzen lindert und Lösungen für kleinere Probleme aufzeigt. Gerade für Menschen mit Depressionen können Kinobesuche somit förderlich sein."

"Movie Therapy" oder "Cinema Therapy" heißt die neue Strömung in der westlichen Psychotherapie. Mehr als 200 US-Therapeuten, die meisten davon aus Hollywood und Umgebung, machen aus ihren Klientinnen und Klienten überzeugte Cineasten. Und auch in England verspricht die Kinoleinwand neuerdings Seelenheil. Etliche Bücher sind auf den Markt gekommen und beinhalten Listen mit passenden Filmen. Und bald schon wird auch bei uns der Markt dafür bereitet sein. Tatsächlich finden sich schon jetzt unter dem deutschen Suchbegriff "Filmtherapie" bei Google mehr als 12.000 Einträge, wobei "film therapy" global rund 14 Millionen Links listet.

"König der Löwen" hilft gegen Ängste

"Alles, was uns hilft, zu reifen oder uns besser zu fühlen, ist therapeutisch", meint der finnische Filmfreak Pekka Mäkipää, der im Internet Wohlfühl-Listen zur seelischen Fitness publiziert. "Der letzte Tango in Paris" von Bernardo Bertolucci sei bei sexuellen Frustrationen hilfreich, und gegen die "Angst, etwas Neues zu beginnen", helfe "Der Bär" von Jean-Jacques Annaud ebenso wie "Paris, Texas" von Wim Wenders oder auch "Der bewegte Mann" von Sönke Wortmann.

"Negatives Denken? ‚Schindlers Liste‘ hilft. Ängste? Schauen Sie sich Disneys ‚König der Löwen‘ an. Sex-Probleme? Ziehen Sie sich ‚Basic Instinct‘ rein", spottet Frank Gerbert im deutschen Wochenmagazin "Focus" über den Trend, sich Filmtipps beim Psychiater zu holen und auf therapeutische Sitzungen weitgehend zu verzichten. "Auf den ersten Blick wirkt der neue Ansatz, als entstamme er einer Psychologen-Satire. Und Kritiker der Traumfabrik Hollywood könnten gar darüber spekulieren, ob hier die US-Filmindustrie versucht, mit Hilfe willfähriger Seelenklempner dem eigenen Schaffen die höheren Weihen zu verleihen."

Der deutsche Psychotherapeut Prof. Dr. Bernd Scheffer zeigt sich in seinem Aufsatz "Die Rezeption von Büchern und Filmen als Therapie?" in der Zeitschrift "Media Observations" schockiert von der Oberflächlichkeit mancher Kolleginnen und Kollegen: "Es zeigen sich Dilettantismus, Scharlatanerie und Quacksalberei. Recherchiert man, welche (. . .) Filmtitel als Therapie von Psychologen und Ärzten empfohlen werden, um die eine oder andere Lebenskrise zu bewältigen, dann stößt man auch auf ziemlich problematische Empfehlungen: Ehepaare mit Kindern, die sich trennen wollen, sollten sich zuvor das Scheidungsdrama, den Film ‚Kramer gegen Kramer‘ (von Regisseur Robert Benton), ansehen. Doch dieser Film verbietet, jedenfalls in der undifferenzierten Rezeption, grundsätzlich jegliche Trennung - und so könnten die ohnehin vorhandenen Angst- und Schuldgefühle realer Eltern, die den Film umstandslos therapeutisch nutzen wollen, ins Überdimensionale wachsen."

Wer als Kriterium von "Therapie" feststellt, dass die Diagnose einer Störung professionell sein und anerkannten wissenschaftlichen Standards genügen soll, der kann die Filmtherapie bestenfalls als laienhafte "Selbsttherapie" akzeptieren, die man nicht mit professioneller Therapie verwechseln darf. Von einem therapeutischen Nutzen der Rezeption von Filmen kann "eigentlich nur dann gesprochen werden, wenn Bücher und Filme innerhalb eines professionell und anerkannten therapeutischen Settings auf reflektierte und kontrollierte Weise eingesetzt werden", so Scheffer. "Das heißt, wenn sie explizit als Bestandteil, wenn sie bewusst als Mittel einer offiziellen Psychotherapie verwendet werden. Dann aber sind Filme allenfalls (. . .) Hilfsmittel einer Therapie, sie allein charakterisieren jedoch noch nicht das therapeutische Gesamtkonzept."

Trotzdem: Viele Experten im Seelen-Business nehmen den schicken bilderreichen Therapie-Ansatz durchaus ernst und verweisen auf den griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.), der die Magie von Theaterstücken - mit Sicherheit das antike Vorgänger-Medium des Kinos - zu erklären suchte. Tragische Entwicklungen auf der Bühne, so der Gelehrte, führten beim Publikum durch Mitleid mit den handelnden Personen zu "Schauder" und "Jammer", doch am Schluss seien die Betrachter innerlich gereinigt und gestärkt - ein Phänomen, das Aristoteles als "Katharsis" bezeichnete.

Im besten Fall sind Filme die Fortsetzung unserer Träume mit anderen Mitteln. Sigmund Freud sah in den Träumen den "Königsweg zum Unbewussten", C. G. Jung erkannte eine "Brücke zu Mythos und Religion". Das Medium Film kann ähnliche Wirkungen beim Publikum hervorrufen. Nicht zufällig erkannte der Wiener Neurologe und Logotherapeut Viktor Frankl die Kunstform Film als eine "Hauptstraße zum Sinn".

"Gute Filme sind wie klare Spiegel unserer Seelen und unseres Geistes: unserer Ängste und unserer Hoffnungen, unserer Verzweiflung und unserer Zuversicht, unserer Sucht nach Erlösung und unserer Sehnsucht nach Sinn. Der richtige Film zur richtigen Zeit vermag mir zu zeigen, wer ich war, wer ich bin oder wer ich womöglich sein könnte, wenn ich begreife, was er mir sagen will, und beherzige, wozu er mich aufzufordern versucht", sagt der Klagenfurter Psychotherapeut und Cineast Otto Teischl.

Wenn der "Lebensfunke" überspringt

Dabei ist aber nicht von Filmen die Rede, die bloß auf Effekte abzielen und vor allem der massenhaften Unterhaltung dienen wollen, sondern von "Filmen, die von Werten und Idealen inspiriert sind und (. . .) Gefühle, Stimmungen, Seelenzustände und Geisteshaltungen ‚abbilden‘ wollen und auszudrücken versuchen, die einen wesentlichen Ausschnitt oder eine bedeutsame Dimension menschlicher Existenz vermitteln, so dass sie, wenn ihr Lebensfunke überspringt und sich ihr Sinn erschließt, beim Zuschauer einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der ihn zum Nachdenken anregt und zur Selbsterkenntnis führen kann."

Das vor kurzem erschienene Buch "Hollywood-Therapie" des Berliner Humanmediziners und Psychotherapeuten Rüdiger Dahlke und seiner Frau Margit zeigt auf, wie aus Spielfilmen therapeutische Hilfe gewonnen werden kann. Sein Ansatz: "Spiel-Filme ermöglichen, die äußere und die innere Welt kennen zu lernen (. . .) Hier dürfte auch der Grund dafür liegen, warum das Medium Film die Welt spielend erobert hat. Hollywood war insofern ungleich erfolgreicher als das US-Militär, das beim gleichen Versuch doch auf erheblichen Widerstand stieß und stößt. In Licht-Spiel-Häusern hatte Hollywood dagegen leichtes Spiel."

Ehefrau Margit Dahlke, Heilpraktikerin und Leiterin des niederbayrischen Heilkundezentrums in Johanniskirchen, ist davon überzeugt, dass "uns die große Zahl guter Filme alle großen Themen des Lebens nahebringen kann. Wir haben inzwischen kaum noch Zeit, uns ausreichend mit drängenden seelischen Themen zu beschäftigen. Für diese Psychotherapie brauchen wir keine zusätzliche Zeit und können sie jederzeit anwenden. Die Leinwand haben wir in kleinen Bildschirmen mittlerweile immer dabei. Selbst größte Filmarchive passen in die Hosentasche."

In einer Abwandlung eines Wortes von Immanuel Kant könnte man sagen: "Das Kino (und nicht der Himmel) hat den Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens dreierlei gegeben: das Lachen, die Hoffnung und den Schlaf."

Angesichts des neuen Psycho-Trends sorgte sich die englische Journalistin Celia Brayfield von "The Times" mit Augenzwinkern bereits um die schwindenden Profite der modernen Seelenklempner: "Der Patient wird schnell herausfinden, dass es viel vergnüglicher und billiger ist, einen Film anzuschauen, als zum Psychiater zu gehen."

Deshalb richtete Brayfield den Therapeuten aus, ihren Patientinnen und Patienten traurige und deprimierende Filme wie beispielsweise "Mona Lisa" von Neil Jordan oder "Trainspotting" von Danny Boyle zu empfehlen: "Dann fließen die Honorare für mindestens sechs weitere Monate."

Filme, die psychische Krankheiten zum Thema haben, sind nicht nur für Betroffene eine Hilfe, sondern helfen auch beim Verständnis solcher Fälle. Einige Beispiele:

"Silver Linings" von David O. Russell beschäftigt sich mit Bipolarer Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung.

"Painful Secrets" von Norma Bailey hat Selbstverletzungen zum Thema.

"A Beautiful Mind" von Ron Howard zeigt Schizophrenie.

"Prozac Nation" von Erik Skjoldbjaerk widmet sich Bipolarer Störung, Drogensucht.

"Super-Hypochonder" von Dany Boo fokussiert Hypochondrie.

"Flight" von Robert Zemeckis rückt Alkoholsucht, Drogensucht ins Zentrum.

"The King’s Speech" von Tom Hooper zeigt die Qual des Stotterns.

"Wahnsinnig verliebt" von Laetitia Colombani blickt auf Eroto- manie.

"Veronika beschließt zu sterben" von Emily Young schildert einen Selbstmordversuch.

"Psycho" von Alfred Hitchock ist auch die Abhandlung einer Dissoziativen Identitätsstörung.

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Zum Autor: Georg Biron, geboren 1958 in Wien, ist Schriftsteller, Reporter, Regisseur und Schauspieler.