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Die Suche der Süchtigen

Von Alexandra Grass

Wissen
Das Smartphone hat Suchtpotenzial - vor allem bei Jugendlichen.
© StockAdobe/bildschoenes

Psychiater Reinhard Haller über die permanente Gier nach neuen Eindrücken.


Lech. Sie wirkt auf alle Bereiche des Lebens ein und wandelt zudem ständig ihr Gesicht - die Sucht. Waren es gestern Drogen, so sind es heute vor allem Internet und Co., die dabei im Fokus stehen. Die permanente Gier nach neuen Eindrücken und Sensationen kann den Menschen auf direktem Weg in eine Suchterkrankung führen. Aufgrund veränderter Zugänge und vermehrter Angebote stehen auch die Therapeuten vor einer neuen Situation, skizzierte der Psychiater Reinhard Haller im Rahmen des diesjährigen Medicinicum Lech, das vergangenes Wochenende am Arlberg stattgefunden hat, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Bis zum Jahr 2050 wird die Sucht neben depressiven Erkrankungen und Infektionen zu den drei wichtigsten Krankheiten zählen, so der Experte. Heute steht sie in dieser Reihung immerhin schon an fünfter Stelle. Die Krankheit des "Nicht-Genug-Kriegens" und des "Nicht-Aufhören-Könnens" scheint deshalb aktueller denn je - ist allerdings auch wohl so alt wie der Mensch selbst.

Der Quell der Fröhlichkeit

Die Grenzwertigkeit zwischen noch normal und gestört war nachweislich schon im Mittelalter ein Thema. Berauschende Pilze, Met, Cannabis oder Stechäpfel gehörten schon damals zum Alltag. In alttestamentarischen Zeiten sprach man vom Quell der Fröhlichkeit. Bis hinein ins Mittelalter galt der Rausch mit seinen ritualisierten Saufgelagen als völlig normal, erklärt Haller. Mit dem aufkommenden 17. Jahrhundert hat sich das Blatt jedoch gewendet. Rausch wurde geächtet, er galt als Krankheit. Seit dem 20. Jahrhundert hat er allerdings auch die Funktion als Therapeutikum inne.

Möglichkeiten, süchtig zu werden, gibt es heutzutage zur Genüge. Neben Angeboten in Folge neuer technischer Errungenschaften wie dem Smartphone ist jedes menschliche Verhalten dazu geeignet. Das sei nicht per se krankhaft oder schlecht, betonte der Experte. "Viele Süchte - etwa die Arbeitssucht oder die Sportsucht - limitieren sich selbst." Doch werden liebe Gewohnheiten tatsächlich zur Sucht, ist Handlungsbedarf gegeben.

Süchtige richten ihr ganzes Leben auf ein Verhalten oder eine bestimmte Wirkung aus. Das reicht vom Online-Gaming bis hin zum Rauchen. Während die Internetabhängigkeit schon Jugendliche heraus aus dem Alltag in andere, verlockende Welten entführt, sie Tag und Nacht vergessen lässt, Kummer beiseite geschoben und die Teilhabe an einem funktionierenden sozialen Leben vorgegaukelt wird, liegt die eigentliche Suchtproblematik bei den Erwachsenen, betonte der Experte. Bei Medikamenten und Alkohol sei eine kontinuierliche Zunahme zu verzeichnen. Rauchen wäre gar die häufigste vermeidbare Todesursache in den Industrielängern. Aber auch die Computerspielsucht wurde von der Weltgesundheitsorganisation mittlerweile als Krankheit gelistet und greift immer mehr um sich.

Das Smartphone selbst spricht den Menschen enorm an, werde allerdings als "Suchtmittel" überschätzt, erklärte Haller. Dennoch ist es wohl eine jener wenigen Abhängigkeiten, die nicht auf herkömmliche Art und Weise therapiert werden kann. Jede Suchttherapie zielt nämlich auf Abstinenz ab. Beim Kommunikationsmittel Smartphone stellt das ein nicht wirklich zielführendes Unterfangen dar.

Völlig neue Situation

Die Therapeuten stehen daher vor einer völlig neuen Situation. Um das soziale Leben nicht zu beschneiden, gelte es daher, die Betroffenen hin zu einem kultivierten, kontrollierten Umgang mit dem Gerät zu führen, so Haller. Zeitlimitierungen seien ein erster Schritt - auch bei Kindern, die durch die spielerische Komponente vor allem als gefährdet gesehen werden können.

Bei Kindern habe vor allem die Vorbeugung Priorität. Jene Faktoren, von denen man wisse, dass sie die Suchtgefahr minimieren, sollten in den Fokus rücken. Den Nachwuchs zu selbstbewussten Menschen heranziehen, ihm Sicherheit geben und Autonomie lehren, seien das Gebot der Stunde, so der Experte.

Doch vor allem scheint es die Rauschwirkung zu sein, die den Menschen triebhaft zu steuern im Stande ist. Hierbei kommen Alkohol und Drogen einmal mehr ins Spiel. "Der Rausch liefert zumeist das, was der Mensch sucht", betonte Haller. Depressive Menschen werden in diesem Zustand wieder fröhlich, ängstliche Menschen wiederum lockerer. Dass mit der Sucht ein Freiheitsverlust in Kauf genommen wird, wird den Betroffenen erst spät bewusst. "War einst die Freiheit der Gesellschaft größtes Gut, so tun wir heute vieles, um unfrei zu werden", zeichnet Haller ein Bild der Kontroverse auf.

Suchtmittel in der Medizin

Seit jeher kommen Suchtmittel auch in der Medizin zum Einsatz. Die Behandlung von starken Schmerzen wäre ohne Opiate kaum noch denkbar. Auch Cannabis gewinnt im medizinischen Bereich in der Schmerztherapie immer mehr an Bedeutung. Ob gerechtfertigt oder nicht - darüber streiten nach wie vor die Experten. Während manche Ärzte dem Medizinalhanf eine gute Wirksamkeit zuschreiben, sprechen andere höchsten von einer moderaten Einflussmöglichkeit. Bis Ende des Jahres will das Gesundheitsministerium einen Bericht zum medizinischen Einsatz von Cannabis verfassen. "Die Wirkung ist bei weitem nicht so gut wie gesagt", so Haller dazu.

Auch ein Expertenbericht aus Deutschland stellt Cannabis kein besonders gutes Zeugnis aus. Die Wirkung sei vielfach nicht ausreichend belegt, heißt es in einem Bericht, der mit Unterstützung der Techniker Krankenkasse entstanden ist. Medizinalhanf kommt etwa bei der Behandlung von Schmerzen, ADHS, Depression oder Übelkeit bei Krebstherapien zum Einsatz. "Doch die Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabis in der Medizin ist für viele dieser Indikationen inkonsistent und lückenhaft. Es gibt zwar für einige Anwendungsbereiche positive Patientenberichte, es liegen aber nur wenige aussagekräftige Studien von methodisch hoher Qualität vor", heißt es in dem Bericht.

Dennoch hatte erst Anfang des Jahres die Herbal Medicinal Products Platform Austria den Hanf zur Arzneipflanze des Jahres gekürt. Die daraus extrahierten Reinsubstanzen THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) werden auch hierzulande gegen Schmerzen oder Übelkeit eingesetzt. "Cannabinoide können starke Opioide keinesfalls ersetzen, aber deren Wirkung steigern und deren Nebenwirkung wie Appetitmangel oder Übelkeit reduzieren", hatte Georg Kress von der Abteilung für spezielle Anästhesie und Schmerzmedizin an der Meduni Wien dazu erklärt.