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Der Mensch als Maß

Von Alexandra Grass

Wissen
© Wikipedia/ Luc Viatour

Die Humanbasierte Medizin setzt in der Diagnostik und Therapie bei den gesunden Anteilen eines Patienten an.


"Die Medizin hat Schubladen für Krankheiten. Werden ausreichend Symptome beobachtet, öffnet sich die passende Schublade. Darin findet sich ein Kärtchen mit der Behandlungsanleitung. Leider weiß die Natur nichts von unseren Kategorien. Diese Kategorien sind Kunstprodukte des Menschen." - Damit verdeutlicht Michael Musalek, Psychiater und ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts das Vorgehen in der herkömmlichen Indikationsmedizin. Fokussiert wird dabei auf die Krankheit selbst, allerdings nicht auf den kranken Menschen, erklärt er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Doch der kranke Mensch ist nicht nur krank - er hat auch gesunde Anteile. Eine sinnvolle Diagnostik müsse daher auch immer die Ressourcen des Einzelnen einbeziehen, um Therapiemaßnahmen darauf abstimmen zu können. In der sogenannten Humanbasierten Medizin wird dies berücksichtigt. Für die Praxis bedeutet das, "dass wir in der Therapie nicht nur auf die Defizite fokussieren und schauen, dass diese minimiert oder sogar zum Verschwinden gebracht werden, sondern es gilt, die Stärken, die Ressourcen, das Kapital des Menschen soweit zu fördern, dass Selbstheilungskräfte wirksam werden können", skizziert der Experte. Das gelte ganz besonders für chronische Erkrankungen. Das Umdenken führe zu einem völligen Paradigmenwechsel sowohl in der Diagnostik als auch in der Behandlung.

Denken in Kategorien

Derzeit werde in der vielfach gepriesenen evidenzbasierten Medizin nur das behandelt, was nachweisbar und belegbar ist. Doch statistische Werte seien nicht immer die letztgültige Wahrheit. "Es ist evident, dass jemand, der aus einem Flugzeug mit einem Fallschirm abspringt, bessere Überlebenschancen hat als jemand, der ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springt. Es gibt dazu aber keine Studie", bringt es Musalek auf den Punkt. Selbstverständlich fuße auch die Humanbasierte Medizin, wie sie sich derzeit international immer weiter entwickelt, grundsätzlich auf dem Boden von wissenschaftlich abgesicherter Evidenz, bezieht aber immer den ganzen Menschen mit ein und lässt mitunter auch andere Wahrheiten gelten.

Die Medizin dürfe nicht nur in Krankheitskategorien denken, wie es bei der klassischen Medizin der Fall ist. Zwar gebe es die dort beschriebenen Leidensformen, die Einzelphänomene, die von Natur aus gegeben sind. "Aber die Krankheit selbst ist etwas, das wir zusammenfassen." Als Beispiel führt Musalek die Kategorie Suchtkrankheit an. Der Kontrollverlust, das Auftreten von Entzugserscheinungen und das unstillbare Verlangen (Graving) seien ganz natürliche Phänomene. Der Sammelbegriff Suchtkrankheit sei hingegen von Menschenhand geschaffen.

Verstehen im Fokus

Wichtig sei jedoch, sich genau mit diesen Einzelphänomenen auseinanderzusetzen und auch mit den Mechanismen, wie diese zustandekommen. In Folge gehe es nämlich darum, die gesunden Anteile des Menschen herauszufiltern. Von großer Bedeutung sei hier der Verstehensanteil, wie es der Mediziner nennt. Und die Psyche ist auch nicht zu unterschätzen, wenn es um das Empfinden von Krankheit geht.

Viele Menschen würden nämlich an Erzählungen wesentlich mehr leiden als an der Krankheit selbst. Beispiel Krebs: Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem ein Mensch weiß, dass er einen Tumor hat, beginnt er zu leiden. Alleine die Geschichten von Unheilbarkeit und grauenvollem Tod, die sich um das Thema ranken, haben eine unglaublich starke negative Wirkung auf das persönliche Befinden. "Daher müssen wir auch diese Geschichten verstehen lernen, um schließlich auch den Menschen in seinen entsprechenden Reaktionsformen verstehen zu können. Erst dann ist eine adäquate Hilfe möglich", betont Michael Musalek.

Neugestaltung des Lebens

In der modernen Suchtbehandlung, wie sie am Anton Proksch Institut bereits umgesetzt und erforscht wird, verdeutlicht sich dieser Ansatz, Ressourcen auszuschöpfen, besonders stark. Dabei gehe es nicht nur um einen Entzug oder die Behandlung von Symptomen, die mit der Sucht einhergehen. Es brauche eine neue Lebensschwerpunktsetzung, damit die Therapie auch nachhaltig sein kann. Bei der Lebensneugestaltung gehe es darum, kognitive, interaktionelle und emotionale Kräfte zu mobilisieren. Im Blickpunkt stehen dabei vor allem zwei Ressourcen - jene des Möglichen und jene des Schönen.

Wenn wir etwas für möglich halten, dann entwickeln wir besonders viel Kraft, das auch umzusetzen. Auch das Schöne wird dabei als Kraftquelle herangezogen. In eigenen Modulen werden die Patienten dahingehend sensibilisiert. Sei es die Natur, die Kunst, ein Handwerk, die Philosophie oder der eigene Körper selbst. Manche Menschen erfreuen sich an der Schönheit der Wälder, andere an jener von Kunstwerken und beginnen selbst zu malen oder zu töpfern.

Auch Filme können zu einer Veränderung der Lebensführung beitragen. Bei der sogenannten Kinotherapie werden Filme gezielt eingesetzt, um bestimmte Situationen erlebbar zu machen. Gefühle oder Handlungsweisen können so aus sicherer Distanz bearbeitet werden.

In der Psychiatrie sei die Humanbasierte Medizin von besonderer Bedeutung, doch letztlich gelte das Schöpfen aus Ressourcen für jedes Fachgebiet. "Auch in der Gynäkologie geht es letztlich nicht um einige wenige Kubikzentimeter eines Frauenkörpers, die fokussiert werden", so Musalek. Jede Frau mit einem gynäkologischen Problem sei immer auch ein ganzer Mensch. Und jeder Mensch reagiere auf Erkrankungen auf besondere Art und Weise individuell, was in der Therapie miteinbezogen werden sollte. So könne man zum Beispiel auch die Menopause nicht einfach nur als hormonelles Problem betrachten. "Es ist natürlich der ganze Mensch, der darunter leidet."

Fehlende Ausbildung

Lässt sich dieser Ansatz überhaupt mit der immer mehr hoch technisierten und auf Kontrolle ausgerichteten Medizin vereinbaren? Ja, betont Musalek. Doch gelte es, diese hohe Technik derart einzusetzen, dass dem ganzen Menschen geholfen werden kann. Das Problem beginne nämlich dann, "wenn die Technik das einzige ist, was wir im Auge haben und schließlich nur zum Selbstzweck dient".

In die Ausbildung ist der Ansatz der Humanbasierten Medizin heute noch nicht integriert, doch wird international immer mehr darüber diskutiert. "Wir werden nicht umhinkommen, das auch in das normale medizinische Curriculum zu übernehmen. Aber da braucht es noch etwas Zeit", erklärt der Experte. Das erfordert nicht nur ein Umdenken in der Medizin insgesamt, sondern auch eine Umstellung des Finanzierungssystems, das derzeit nur auf die Behandlung von Krankheiten ausgerichtet ist. Das hätte weitreichende Folgen auch im ökonomischen Bereich.

Den richtigen Arzt zu finden, kommt aufgrund der noch fehlenden Ausbildung heute allerdings wohl einer Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleich. Vor allem an der Fragestellung seien die Mediziner zu unterscheiden. "Baut ein Arzt in seiner Anamnese auch Fragen ein, wo meine gesunden Anteile, meine Stärken sind und wie sie sich im gemeinsamen Kampf gegen die Krankheit mobilisieren lassen, dann weiß ich mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen humanbasiert denkenden Mediziner handelt", erklärt Musalek. Bis die Humanbasierte Medizin allerdings voll und ganz gelebte Praxis sein wird, werde es noch mindestens zehn Jahre dauern, so die Prognose.