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Die vierte Dimension im Gehirn

Von Eva Stanzl

Gehirn
Die Zeitmesser im Kopf speichern Erfahrungen ab, so wie wir sie erleben.
© Alexander Limbach

Das Denkorgan misst die Zeit genau so, wie sie erlebt wird.


Wien. Der Mensch erfand die Uhr, um Abläufe zu synchronisieren. Dahinter steht die Übereinkunft, dass alle ihre Aktivitäten nach der gleichen zeitlichen Messlatte richten. Doch das Gehirn kennt ein anderes Zeitgefühl. Erlebnisse speichert es nicht im Minutentakt ab, sondern es folgt seinen eigenen Zeitsignalen.

Ein norwegisches Team des Kavli Instituts für Systemische Neurowissenschaften in Trondheim hat ein Netzwerk von Gehirnzellen entdeckt, das Erfahrungen und Erinnerungen zeitlich einordnet. "Dieses Zell-Netzwerk versieht Ereignisse mit Zeitstempeln und speichert sie in der richtigen Reihenfolge ab", erläutert Edvard Moser, Direktor des Kavli Instituts an der Technischen Universität Norwegen, in einer Aussendung zu den in "Nature" publizierten Ergebnissen. Das Zeit-Netzwerk liege außerdem direkt neben der Region für räumliche Orientierung.

Lebewesen besitzen mehrere biologische Uhren - den Tag-Nacht-Rhythmus, die hormonellen Taktgeber, die Aktivitäten der inneren Organe, um nur einige zu nennen. Doch die Uhren im Gehirn sind noch feiner abgestimmt, denn sie folgen einem Konzert aus äußeren Impulsen (zum Beispiel dem Tageslicht) und inneren Vorgaben. Etwa schicken bestimmte Zellen im Hippocampus dominoartig Signale aus, um Zeitspannen von bis zu zehn Sekunden präzise festzuhalten. Weniger war jedoch bisher darüber bekannt, wie Erfahrungen und Erinnerungen, die jede Dauer haben können, in der richtigen Reihenfolge abgespeichert werden.

Albert Tsao und sein Team nutzten im Labor gezüchtete Gehirnzellen als Modell. Die Forschenden konnten in dem Zell-Netzwerk ein Signal nachweisen, das für Zeitinformationen kodiert. Das Zell-Netzwerk arbeitet wie eine neuronale Uhr, die Zeitabfolgen unmittelbar während eines Erlebnisses festhält. Es verarbeitet das Erlebte allerdings nicht Minutenabfolgen, sondern als subjektives Zeitempfinden im Erfahrungsfluss, den die Person macht.

"Unsere Studie zeigt, wie das Gehirn Zeitinformationen entschlüsselt, während es etwas erlebt", sagt Tsao. Erfahrungen und erlebte Zeitabfolgen sind somit der Stoff, aus dem subjektives Zeitempfinden entsteht und vom Gehirn verarbeitet wird. Anders als die räumliche Orientierung, bei der spezialisierte Zellen ihre typischen Funktionen erfüllen, folgen die neuronalen Zeitmesser keinem typischen Aktivitätsmuster, sondern das Signal verändert sich ständig. "Zeit ist kein regelmäßiger Prozess. Sie ist immer einzigartig und veränderlich", betont Moser, der zusammen mit seiner Ehefrau May-Britt 2014 für die Entdeckung grundlegender Strukturen des Orientierungssinnes den Nobelpreis für Medizin erhielt.

Subjektive Messung

Damit das zuständige Zell-Netzwerk einmalige Erfahrungen abbilden und festhalten kann, müsse das Gehirn seine Zeit-Signale immer an die Erfahrung anpassen, erläutert Moser: "Die Aktivität ist flexibel und sehr stark in diesen neuronalen Netzwerken verteilt, sodass der Zeit-Mechanismus selbst sogar in der Struktur seiner Verschaltungen beheimatet sein könnte. Die Erkenntnisse könnten ein ganz neues Forschungsfeld eröffnen."

Die Struktur der Zeit zählt zu den großen Fragen von Physik und Philosophie. Doch was sagt der neu entdeckte Mechanismus für episodische Wahrnehmung über Zeitwahrnehmung an sich? Verläuft die Zeit für uns linear wie ein Fluss oder kreisförmig wie ein Rad? Laut den Forschern können immerhin die Signale für Zeit im Gehirn jede Form annehmen, die wir meinen zu erleben.