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Warum wir Scham empfinden

Von Eva Stanzl

Wissen
Ein unangenehmes Gefühl: Wer sich nicht schämen will, muss bedenken, was er tut.
© adobestock/Bodnarchuk

So wie der Schmerz dient auch die Scham dem Schutz: Sie sichert das Überleben in Gruppen.


Santa Barbara/Wien. Schäm’ dich! Dieser Ausspruch geht unter die Haut. Doch welche Funktion hat das unangenehme Gefühl der Scham? Ist es heilbar, haben Religionen es uns vermittelt oder hat es einfach mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun? Mitnichten, berichtet ein US-Forschungsteam: In der Evolution habe die Scham eine wichtige Funktion. Jäger und Sammler schützte sie vor der Ausgrenzung durch den Stamm und damit vor dem sicheren Tod.

Unsere steinzeitlichen Vorfahren fanden sich unerwartet in lebensbedrohlichen Situationen. Zudem mussten sie längere Hungerperioden überdauern. Um zu überleben, waren sie auf Hilfe und Gunst ihrer Stammesgenossen angewiesen. Wenn diese nicht helfen wollten, konnte man sich seines Lebens nicht sicher sein.

Aus diesem Grund sei es besonders wichtig gewesen, sich nicht als der Hilfe unwürdig zu erweisen. Man musste sich gut zu überlegen, was man tat, berichtet das Team der University of California in Santa Barbara. Vor jeder Handlung galt es, die Kosten gegen den Nutzen abzuwägen. Wenn das Risiko, etwa beim Stehlen erwischt zu werden, sehr hoch war, unterließ man es lieber: Die Missgunst der anderen wäre in keinem Verhältnis zur Belohnung gestanden, schreiben die Forscher im Fachjournal "Proceedings of the National Academy of Sciences".

"In einer Welt ohne Sozialleistungen, ohne Polizeisystem, Spitäler und Versicherungen mussten die Jäger und Sammler sich gut überlegen, wie viel Unterstützung sie zu verlieren hätten, wenn sie den anderen in den Rücken fallen", wird Erstautor Daniel Sznycer, Psychologe an der Universität Montreal, in einer Aussendung zur Studie zitiert: "Scham ist ein Signal des Gehirns. Es hält uns davon ab, den Wert, den andere Menschen unserem Wohlergehen beimessen, auf das Spiel zu setzen." "Wenn eine Gesellschaft funktionieren soll, dürfen wir nicht einfach herumstolpern und erst merken, dass wir uns unangemessen verhalten haben, nachdem es zu spät ist", betont Koautorin Leda Cosmides von der University of California: "Das Motivationssystem im Gehirn muss schon im Vorhinein einschätzen, wie viel Billigung oder Missbilligung jede Handlung bei anderen auslösen würde."

Ein universelles Gefühl

Wenn wir nicht auf das Motivationssystem hören, wollen wir nachher am liebsten im Boden versinken. Damit es nicht oder nur selten so weit kommt, hat die Evolution den Menschen mit der Fähigkeit ausgestattet, Scham zu antizipieren. So wie der Schmerz dient auch die Scham dem Schutz. Schon allein die Vorstellung von Schmerz hindert uns daran, die Finger auf die Herdplatte zu legen. "Ganz ähnlich hält uns die Möglichkeit, uns für uns selbst schämen zu müssen, davon ab unsere sozialen Beziehungen kaputtzumachen. Auch motiviert sie uns, zerstörte Beziehungen wieder zu kitten", betont Sznycer. Wäre dem nicht so, könnten wir keine sozialen Beziehungen aufrechterhalten.

Wenn wir immer nur tun würden, was andere wollen, würden wir ausgebeutet und von der Evolution aussortiert. Ausschließlich selbstsüchtige Individuen hätten hingegen gar keine Freunde. Die Selektion würde sich auch gegen sie entscheiden, weil sie nicht fit wären für ein Leben, in dem die Menschen, von einander abhängig, in der Gruppe am besten gedeihen.

Um zu testen, ob seine Hypothese auf alle Menschen anwendbar sei, analysierte das Team Daten von 15 traditionell lebenden Völkern auf vier Kontinenten. Diese sprechen verschiedene Sprachen und glauben an unterschiedliche Götter. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie entweder mit Fischerei, Jagen und Sammeln oder nomadischer Tierhaltung. Wenn Scham ein universelles Gefühl ist, sollten alle Völker sie ähnlich empfinden, fanden die Forscher. Wenn sie aber so wie die Landwirtschaft oder das Alphabet eine kulturelle Erfindung ist, sollten die Auffassungen sich unterscheiden.

Bisher hatten Anthropologen angenommen, dass manche Kulturen von Schuldgefühlen und andere von Angst motiviert seien. Die Forscher entdeckten ähnliche Intensitäten von an Entwertung gekoppeltem Schamgefühl bei allen 15 Völkern. Dabei reichte es sogar, wenn andere eine Handlung zu Unrecht als negativ bewerteten.