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Widerständiges Versuchslabor Familie

Von Judith Belfkih

Wissen
© Mirjam Kluka

Philosophin Barbara Bleisch analysiert, warum wir unseren Eltern nichts schulden - und wir sie mehr brauchen als je zuvor.


Familie kann sich als schlimmste aller Höllen erweisen. Noch dazu als eine, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Vater, Mutter, Geschwister und Kinder sind exklusive Relationen, die weder frei wählbar noch austauschbar sind. Die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch hat sich die Beziehung zwischen Eltern und Kindern näher angeschaut. Ihr Fazit: Wir schulden unseren Eltern nichts. Zumindest nicht allein dadurch, dass sie unsere Eltern sind. Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir unwiderrufbar an einander gebunden sind. Ein Gespräch über Verantwortungen und Widerständigkeit sowie den Reichtum, hinter der Schallmauer des familiären Pflichtgefühls.

"Wiener Zeitung": Woher kommt dieser weit verbreitete innerfamiliäre Schuldgedanke?

Barbara Bleisch: Die Vorstellung, dass wir bereits als Schuldige in die Welt treten, findet sich bereits in der biblischen Erbsünde. Der Gedanke, dass wir unseren Eltern etwas schulden allein aufgrund des Geburtsgeschenkes, ist eine weltliche Version davon. Mit der Geburt sind wir quasi schon im Minus und müssen diese Schuld abarbeiten. Familie war und ist in vielen Gesellschaften außerdem die grundlegende Sozialversicherung. Soziale Sicherheit an die Familie zu delegieren, kann eine sinnvolle Form der Arbeitsteilung sein. Ob das ein sinnvolles Modell für unsere Gegenwart sein kann, möchte ich in Frage stellen. Das würde ja heißen, dass Menschen, die nicht in Großfamilien eingebettet sind, keine Hilfe erfahren. Wir haben heute den Anspruch, dass wir als Gemeinschaft dafür aufkommen, dass jeder umsorgt ist bis ins hohe Alter, bis in den Tod. Das scheint mir eminent wichtig für eine würdige, eine anständige Gesellschaft.

Wir haben bereits familiäre Aufgaben ausgelagert an das kollektive System. Führt das nicht zu Phänomenen wie wachsender Einsamkeit?

Im Gegenteil. Denn was meinen wir mit dieser Einsamkeit? Wir wünschen uns im Alter meist zwei Dinge: Generelle Güter, die wir brauchen, um in Würde leben zu können: dass wir es warm haben und zu essen, dass wir gepflegt sind, uns noch anregen lassen können. Das sind Dinge, die wir als Familie delegieren, als Gemeinschaft organisieren können. Einsamkeit ist vielmehr ein Resultat davon, dass uns relationale Güter fehlen, also solche, die auf Beziehungen basieren. Diese Güter können wir nicht delegieren, denn sie bestehen darin, vertraute Beziehungen zu pflegen, sich aufgehoben zu fühlen in Ritualen, in tiefen Gesprächen. Wir können sie aber auch nicht mit dem Pochen auf Schuldigkeit eintreiben, sondern nur, indem wir darum bemüht sind, familiären Bindungen Raum zum Atmen zu geben. Wenn wir Familie überlasten mit Pflegeaufgaben, die sie nicht wahrnehmen können, leiden die Beziehungen.

Wie können wir diese zwischenmenschliche Altersvorsorge als Gesellschaft verbessern?

Sicher nicht durch das Pochen auf eine Schuldigkeit. Wer jemals eine nahestehende Person gepflegt hat, weiß, wie prägend und kostbar, aber auch wie beziehungsgefährdend diese Erfahrung sein kann. Wenn wir als Gesellschaft die Familie schützen wollen, sollten wir erwachsene Kinder in der Betreuung ihrer Eltern unterstützen, statt sie alleinzulassen, indem man entsprechende Pflichten aufgrund von Kindschaft behauptet.

Hinter der Schuld wartet aber auch nicht einfach Freiheit, sondern ein Ineinander-verzahnt-Sein, das wir nie auflösen können. Ist das nicht noch fataler? Eine Schuld könnte man immerhin tilgen. . .

Da haben Sie recht. Wobei die Vorstellung, dass die Schuld in Familien je getilgt wäre, ja auch nicht stimmt. Welcher Vater wird seinem Sohn je sagen: Jetzt sind Deine Schulden abgezahlt, ab morgen hast Du keine Pflichten mehr? Dieses Verzahnt-Sein können wir tatsächlich nie abschütteln, und es kann - wenn die Beziehung schlecht ist - fatal sein. Aber starke Bindungen haben, wenn sie gut sind, auch eine Kehrseite: Ich bin getragen, geborgen. Unsere Identität ist aufs Engste verwoben mit der unserer Eltern. Daraus ergeben sich viele Gründe, sich umeinander zu bemühen. Doch diese Gründe hängen von der jeweiligen Beziehung ab - und nicht vom Umstand, dass diese Eltern uns geboren oder aufgezogen haben. Die Feststellung, dass wir unseren Eltern nichts schulden, ist aber kein Freipass dafür, einander respektlos zu behandeln. Die grundlegenden moralischen Gebote gelten natürlich auch in Familien. Ausbeuten oder mutwillig verletzen dürfen wir niemanden.

Wann wird dieses System zur Hölle?

Der Schauspieler Jack Nicholson meinte in einem Interview, die Verherrlichung der Familie sei ein regressives Konzept. In der Weltliteratur dominiere die Familienhölle. Das hat zu tun mit der Intimität, mit der Familie einhergeht. Gerade weil man sich so nahe war und noch ist, kennt man die wunden Punkte des Gegenübers. Familie lässt sich ja auch nicht beenden oder ersetzen. Wir können den Kontakt abbrechen, aber es gibt keine Ex-Väter und Ex-Mütter. Das birgt Momente einer großen Verletzlichkeit - als Kehrseite zum Familienglück. Die Hölle ist aber auch unglaublich interessant. Der Himmel ist langweilig, da passiert ja nix. In der Hölle ist es bunt, da geht es zur Sache!

Also ist die Hölle vorzuziehen?

(lacht) Die Hölle birgt unglaublich viel Attraktivität. Wenn wir Hölle in Befremden mildern, gelangen wir zu meiner Idee der Familie als geistigem Trainingslabor, in dem wir unglaublich viel lernen können. In der Welt suchen wir meist Gleichgesinnte, umgeben uns in Filterblasen mit immer gleichen Ansichten. Alles ist kuschelig. Familie ist dagegen widerständig. In der eigenen Verwandtschaft trifft man oft auf die bizarrsten Figuren. Gerade das macht Familie großartig. Sie zeigt Einstellungen auf, denen wir in unseren Soziotopen nicht begegnen würden.

Bekommt Familie heute die neue Funktion, die Blasen digitalen Echokammern zu sprengen?

Definitiv. Dazu kommt ein weiterer Punkt: Beziehungen sind heute vermehrt in Gefahr, ökonomisiert zu werden. Wir suchen in der Liebe nach dem besten Treffer, nach dem stets neuen Abenteuer. In Beziehungen zu sein, in denen man sich nicht beweisen muss, in denen man sich einfach gegeben ist, ohne optimal sein zu müssen, ist von ungeheurem Wert. Diese Gegebenheit also auch als Freiheit zu sehen - das ist vielleicht der neue Sinn von Familie.

Brauchen wir neue Familienbilder?

Wir sollten Familie von der Gabe, nicht von der Schuld her denken. Nur dann werden wir frei, uns einander zu schenken. Schuldgefühle verbinden nicht, sie trennen. Verbindend ist nur das lebendige Interesse aneinander - im besten Fall wechselseitige Liebe.

Philosophicum Lech

"Die Hölle. Kulturen des Unerträglichen" lautet der Titel des diesjährigen Philosophicums Lech. Von 19. bis 23. September treffen dabei Wissenschafter und Experten wie Philosoph Konrad Paul Liessmann, Medienwissenschafter Bernhard Pörksen, Psychiater Reinhard Haller, Politikwissenschafter Philipp Lepenies und Islamwissenschafterin Christine Schirrmacher aufeinander, um sich über das Thema auszutauschen.

Die 1973 geborene Philosophin Barbara Bleisch, sie ist Dozentin an der Universität Zürich und moderiert im SRF die Sendung "Sternstunde Philosophie", spricht dabei zum Thema "In der Familienhölle - Die Tücken der Blutsbande". Zuletzt erschien bei Hanser Bleischs Buch "Warum wir unseren Eltern nichts schulden".