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Erinnert ihr euch?

Von Eva Stanzl

Gehirn

Das Gedächtnis speichert nicht die Vergangenheit exakt ab. Sondern es will, dass wir uns in Zukunft richtig verhalten können.


Ob Bootfahren mit Weihnachtsmütze oder Laufen am weiten Meer: Wir merken uns überraschende Dinge.
© adobe stock

Autofahrt an den Gardasee in einem Sommer Mitte der 1980er Jahre: vorne die Eltern, auf dem Rücksitz die beiden Töchter und eine Freundin der Älteren. Der Vater doziert über die Geschichte Italiens und unterbricht sich nur dann, wenn er auf die Schönheit der Landschaft hinweisen will. Die Mutter verteilt Sandwiches, findet, dass der Vater im Auto weniger rauchen sollte, und singt "Spann den Wagen an". Die ältere Tochter teilt sich mit ihrer Freundin denn Walkman, die jüngere isst ihr Sandwich und langweilt sich.

Die jüngere Tochter wird sich an die vielen Kurven während der langen Fahrt erinnern und daran, dass ihr auf dem Rücksitz schlecht wurde. Dem Vater wiederum werden die beiden älteren Mädchen als verzogene Gören im Gedächtnis bleiben, die noch dazu abends heimlich in die Disco gingen. Dort werden sich die beiden 15-Jährigen von den lässigen Jungs aus München beeindrucken lassen, die sie auf ihren Motorrädern nach La Spezia mitnehmen wollten, sowie an den Vater, der dies verhinderte. Plötzlich stand der nämlich in der Disco, um sie abzuholen. Die Mutter werden die Geschehnisse an ihre eigene Jugend erinnern, außerdem wird sie die Optik der gänzlich im Stile der 1950er Jahre gehaltenen Ferienwohnung faszinieren. Die Urlaubsberichte werden Freunden und Familie den Eindruck vermitteln, die fünf wären jeder auf einer anderen Reise gewesen - etwa wenn beide Teenager überzeugt sein werden, bei der Besichtigung des römischen Verona, von dem der Vater so schwärmt, gar nicht dabei gewesen zu sein.

Bedeutsames wird gespeichert

Wie kommt es, dass jeder Mensch andere Seiten ein- und desselben Ereignisses speichert? Wie entscheidet das Gehirn, was es sich merken und was es gleich wieder vergessen will? Eines vorweg: Unser Denkorgan verfolgt nicht das Ziel, Sinnesreize schön fein säuberlich nacheinander abzuspeichern. Die richtige Reihenfolge steht nicht an erster Stelle. Es bietet auch keinen Mechanismus an, der alle Erinnerungen wie der Automat in der Parkgarage Tickets ausspuckt. Sondern es speichert nur die bedeutsamen Dinge.

"Das Gedächtnis hat nicht im Sinn, abzubilden, was alles passiert ist. Es ist kein Lexikon und kein Videorekorder, sondern es sorgt dafür, dass wir uns in Zukunft richtig verhalten können", erklärt der deutsche Neurobiologe Henning Beck, Autor zahlreicher Bücher zum Thema. Da Menschen nun einmal unterschiedliche Lebensziele verfolgen, merken sie sich all jene Dinge, die sie meinen zu brauchen. "Wenn zwei Leute
die Straße entlang gehen, erinnern beide sich eine Woche später vielleicht noch an die Straße, aber nicht an dieselben Verkaufsobjekte in den Schaufenstern", sagt Beck.

Erwartung, Erfahrung, Gefühl

Das Gehirn verknüpft Erwartungen mit Erfahrungen. Die Mischung ermöglicht es seinem Träger, sich im Leben zurechtzufinden. "Mit dem Gedächtnis verhält es sich wie mit Essen kaufen. Wenn ich Lebensmittel für die kommende Woche besorge, weiß ich zwar nicht genau, wie jeder Tag sein wird. Aber ich kann mir vorstellen, was ich in etwa brauche. Ähnlich weiß das Gedächtnis, womit es etwas anfangen kann", erklärt Beck.

Warum aber wirkt ausgerechnet das quietschende Geräusch des Plastikdreirads aus der Kindheit nach, während die Farbe des vor sich hinschnurrenden ersten Zweirads vergessen ist? Vielleicht machte das Quietschen bewusst, wie irritierend dieses Geräusch ist, und ließ nach etwas Besserem sehnen. Und der wunderschöne Familienspaziergang in den südlichen Weinbergen vor den Toren Wiens Anfang Herbst? Die Unbeschwertheit dieses Tages wird mit der Landschaft verknüpft, die dann auch später gerne aufgesucht wird. Für andere Teilnehmer ist der Ausflug aber vielleicht schneller verraucht, weil sie gerade andere Dinge im Kopf hatten.

Das Erlebnis Spaziergang kommt in Bildern (Weinberge, in der Sonne), Geräuschen (Rascheln herbstlicher Blätter, Lachen), Gerüchen (angrenzender Wald, Nüsse) und Geschmäckern (Trauben) im Gehirn an. Die Sinnesreize verbinden sich mit dem Gefühl des Moments und die Informationen landen im Hippocampus, der daraus Erinnerungen strickt. Er schickt die Eindrücke in den Papez’schen Schaltkreis, der sie auf Relevanz zu bereits vorhandenen Erfahrungen abklopft, sie mit Emotionen verbindet und bei Bedarf in die Großhirnrinde zum Abspeichern schickt. In der Nacht sortieren Hippocampus und Großhirnrinde noch einmal nach, was als Muster im Langzeitgedächtnis bleiben darf und wo es hinkommen soll. Erinnerungen werden wie Puzzlesteine im Gehirn verteilt - etwa landen Gerüche in einer anderen Schublade als Bilder oder Musik.

Der Hippocampus reift bis zum Alter von 14 Jahren. Anfang 20 erreichen Menschen ihren geistigen Höhepunkt, doch nach dem 30. Geburtstag lässt diese Leistung allmählich wieder nach. Je älter wir werden, desto mehr scheinen wir zu vergessen. "Ein Kind, das Memory spielt, gewinnt häufiger als seine Eltern, weil es versucht, sich ohne Vorbelastung alles zu merken. Je älter wir werden, desto mehr Information müssen wir verarbeiten. Das Gehirn priorisiert, ansonsten würde es all den Informationen nicht Herr", sagt Beck.

Ähnlich wie Musik erst entsteht, wenn die Musiker spielen, kramt das Gehirn die Erinnerungen erst hervor, wenn die Gedanken einem inneren oder äußeren Auslöser folgen. Und so wie die Musiker spielen auch die Gedanken nicht immer gleich. Das hat zur Folge, dass Erinnerungen sich verändern, je öfter sie erzählt werden. "Erinnerungen müssen lebendig sein. Dieselben Regionen, die für sie zuständig sind, sorgen dafür, dass wir die Zukunft planen und Dinge in neue Zusammenhänge stellen können", erläutert der Psychologe Rüdiger Pohl von der Universität Mannheim: Der Mensch überschreibt seine Erinnerungen ständig neu.

Wie mit Bleistift und Radiergummi, wie mit Copy und Paste feilt das Gehirn ständig an seinen Gedächtnisinhalten, um zu planen, zu verändern, Visionen zu fassen und für sich zu sorgen. Nur die Biografie bleibt erhalten - und zwar in Form von Meilensteinen und großen Abschnitten. Kindheit, Schulzeit, neuer Job, große Liebe oder Ehe etwa zählen zu den Eckpunkten des Lebensinhalts, der vorgibt, was wir uns merken. Wäre das Gedächtnis nicht formbar, befänden wir uns in einem statischen Erinnerungsgefängnis - und könnten nicht überleben.

Künstliche Erinnerungen

Doch die Freiheit hat ihren Preis. Denn die Gedanken können Erinnerungen auch erzeugen. "Unser Gehirn setzt permanent alles neu zusammen aus einzelnen Schnipseln und baut dabei auch Dinge ein, die man nicht erlebt, sondern sich nur vorgestellt hat", erklärt Pohl. "Man kann Menschen sogar künstliche Erinnerungen einpflanzen, wenn man sie lange genug bittet, sich vorzustellen, dass etwas Bestimmtes in ihrer Kindheit passiert ist. Irgend wann glauben sie es dann selbst."

Was im Gedächtnis gespeichert ist, hält der Mensch für wahr. In Experimenten entwickelte laut Pohl ein Viertel der Testpersonen falsche Erinnerungen über die Kindheit. Die Betroffenen konnten nicht mehr zwischen Tatsache und Fiktion unterscheiden - im Gegenteil: Je öfter nachgefragt wurde, desto mehr Details wussten sie darüber zu berichten. Auch wenn Zeugen vor Gericht unwissentlich falsche Aussagen abgeben oder Unschuldige Mordgeständnisse abgeben, weil sie überzeugt sind, die Tat begangen zu haben, ist diese Eigenschaft unseres Denkorgans am Werk.

Das Gehirn ist ein fantasievolles Organ. Es versucht ständig, Sinn ins Chaos zu bringen. Gibt man ihm einen Schnipsel, macht es etwas daraus. Und es kann Inhalte löschen: Etwa macht es frühkindliche Erlebnisse nach und nach unzugänglich, wenn es Sprache erlernt. Aus diesem Grund beginnen Kindheitserinnerungen erst ab etwa drei Jahren und muss der Frühherbst-Spaziergang wohl später stattgefunden haben.