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Vergessen mit Eiswasser

Von Kerstin Viering

Wissen
Ein Sprung ins kalte Wasser könnte helfen, Ängste zu überwinden.
© adobestock/D. Mikhail

Stress kann Menschen helfen, die Furcht vor Spinnen oder großen Höhen loszuwerden.


Wien. Es geht um den Traumjob. Doch vom Auswahlgremium kein freundlicher Gruß, kein ermutigendes Lächeln. Die Atmosphäre ist distanziert, geradezu frostig. Und da soll man souverän über seine Stärken und Schwächen referieren? Das kann eigentlich nur schiefgehen. "Eine solche Situation ist für viele Menschen der pure Stress", sagt der Psychologe Oliver Wolf von der Ruhr-Universität Bochum. Genau das ist der Sinn der Sache. Denn die albtraumhafte Jury hat in Wirklichkeit gar keine Stellen zu vergeben. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, Versuchsteilnehmer unter Druck zu setzen. So können Wolf und sein Team untersuchen, wie sich Stress bei den Probanden auf das Lernen und Vergessen auswirkt.

Den Zusammenhang erleben viele Menschen im Alltag: Der eine saß vielleicht in einer Prüfung und vergaß vor Aufregung den Stoff, den er sich am Tag zuvor noch rasch ins Hirn geprügelt hatte. Der anderen entfiel vor lauter Stress im Büro der eigene Hochzeitstag. Wie kommen solche Effekte zustande? Lassen sie sich womöglich beeinflussen? Genau solche Fragen wollen die Bochumer Psychologen beantworten. Ihre Arbeit könnte Menschen helfen, ihre Furcht vor Spinnen oder Höhen loszuwerden. Denn Entstehung und Behandlung solcher Ängste haben viel mit Lernen und Vergessen zu tun.

"Wenn eine Situation bedrohlich und emotional aufwühlend ist, merken wir uns ihre Details besonders gut", erklärt Wolf. Das hat sich im Laufe der Evolution als sinnvoll erwiesen. Wer einem gefährlichen Raubtier gegenüberstand, sollte sich merken, wie er ihm entkommen ist. Ein Zusammenspiel von Stresshormonen sorgt in solchen Fällen dafür, dass sich die Erinnerungen besonders gut verfestigen. Zuerst meldet das rasch ausgeschüttete Noradrenalin, dass die Situation furchteinflößend und somit wichtig ist. Das langsamer wirkende Cortisol sorgt dann dafür, dass diese Erkenntnis im Hippocampus des Gehirns abgespeichert wird.

Archiv der Bedrohungen

Doch nicht nur tatsächlich gefährliche Situationen landen in diesem Archiv der Bedrohungen. Die Begegnung mit einer Spinne etwa ist in Mitteleuropa normalerweise harmlos. Trotzdem lösen die Tiere bei Menschen Angst und Ekel, bei manchen sogar Panik aus. Dahinter können verschiedene Ursachen stecken. Vielleicht haben sich die Betroffenen irgendwann vor einem Achtbeiner erschreckt, der sich vor ihrer Nase abgeseilt hatte. Oder man war als Kind mit dem Spinnen-Ekel anderer Leute konfrontiert. Jedenfalls hat man verinnerlicht, dass krabbelnde Lebewesen mit acht Beinen gefährlich sind.

Zum Glück kann man solche Ängste wieder loswerden. "Gerade bei Spinnenangst ist eine Konfrontationstherapie erfolgversprechend", sagt Oliver Wolf. Mit Unterstützung eines Therapeuten gelingt es vielen Betroffenen schon innerhalb eines Tages, sich den gefürchteten Monstern schrittweise anzunähern, bis sie so ein Tier sogar anfassen oder über ihre Hand krabbeln lassen können.

Verlernen von Angst

Das Problem ist allerdings, dass die Angst später zurückkehren kann. Denn die Therapie löscht verinnerlichte Dogmen wie "Spinnen sind bedrohlich" nicht aus. Vielmehr lernen die Patienten eine neue Lektion, die besagt: "Spinnen sind doch nicht gefährlich - die alte Warnung ist nicht mehr relevant." "Diese beiden widersprüchlichen Informationen stehen dann im Wettstreit", so Wolf. "Und es kann passieren, dass die alte Furcht manchmal die Oberhand gewinnt."

Das Verlernen von Angst ist stark an die Situation gebunden. In der Psychotherapiepraxis kann ein Patient mit einer Spinne keine Probleme mehr haben. Wenn er dann aber eine in seinem eigenen Keller findet, ist das Grauen wieder da. Um die durchaus guten Ergebnisse von Konfrontationstherapien noch weiter zu verbessern, könnte es helfen, die Patienten vor ihrer Behandlung ein wenig unter Stress zu setzen. Die Bochumer Forscher haben nämlich herausgefunden, dass dann das Verlernen von Ängsten unabhängig vom aktuellen Kontext erfolgt.

In einem Experiment haben sie den Teilnehmern zunächst Bilder von einem Büro mit einer Schreibtischlampe gezeigt. Leuchtete diese in einer Farbe, etwa Rot, bekamen die Probanden einen unangenehmen elektrischen Reiz auf der Haut zu spüren. Messungen der Hautleitfähigkeit zeigten, dass sie nach einigen Durchgängen schon ängstlich auf die Farbe reagierten, bevor tatsächlich ein Reiz zu spüren war. Sie hatten gelernt, Rot mit dem Negativ-Erlebnis zu verbinden. Am nächsten Tag musste sich die Hälfte der Teilnehmer zunächst einer stressigen Situation aussetzen: Sie sollten die Hand in Eiswasser halten und wurden dabei gefilmt. Anschließend bekamen sie Fotos der gleichen Lampe gezeigt, die allerdings in einer Bibliothek stand. Diesmal passierte bei rotem Licht überhaupt nichts. Am dritten Tag wechselten sich Lampen-Bilder aus Bibliothek und Büro ab, wieder ohne negative Erlebnisse für die Betrachter.

Die Ergebnisse fielen je nach Stresslevel der Teilnehmer unterschiedlich aus. Zwar lernten alle Beteiligten am zweiten Tag problemlos, dass rotes Licht in der Bibliothek nicht gefährlich war. Doch nur die gestresste Gruppe konnte diese Erkenntnis auch auf den ursprünglich angstauslösenden Büro-Kontext übertragen. "In diesem Versuch sahen wir deutlich, dass Stress das Verlernen von Ängsten fördern kann", sagt Wolf.

"Rot ist doch nicht gefährlich"

Dahinter steckt vermutlich eine Kombination aus zwei Effekten. Zum einen verinnerlichen die Gestressten die neue Information "Rot ist doch nicht gefährlich" besser. Zum anderen können sie ähnlich wie bei einem Prüfungs-Blackout nicht mehr so gut auf früher Gelerntes zurückgreifen - in diesem Fall also auf ihre alte Rot-Angst.

Die Forscher sind optimistisch, dass ihre Erkenntnisse bei der Behandlung von Angstpatienten helfen können. Ein Team um Dominique de Quervain von der Universität Basel hatte bereits gezeigt, dass eine vor einer Konfrontationstherapie geschluckte Cortisol-Tablette bei Menschen mit Spinnen- oder Höhenangst zu einem besseren Therapieerfolg führt. Allerdings kann eine medikamentöse Hormonbehandlung durchaus Nebenwirkungen haben. "Wir denken, dass man einen solchen Erfolg auch ohne Hormongabe erreichen kann", sagt Wolf - und zwar durch den Griff ins Eiswasser.