
Malerische Bilder der Armut kennt jeder. Die bitterkalte Mansarde zum Beispiel, in der der erste Akt der Oper "La Bohème" beginnt. Sie ist ein fester Bestandteil der kollektiven Phantasie, ebenso wie das Manuskript, das der Dichter Rodolfo dort opfert, um an diesem Weihnachtsabend noch einmal einheizen zu können, und auch seine strahlende Arie über die Armut: "In povertà mia lieta".
So berührend diese Bilder auch sein mögen und so hinreißend die Musik, die sie begleiten, so fern sind sie natürlich den modernen Gesichtern der Armut, wie sie der Soziologe Heinz Bude in "Die Ausgeschlossenen" erforscht hat. "Es kann einem aber auch passieren", schreibt er, "dass man auf einem Fest zu einem runden Geburtstag nach vielen Jahren auf einen Bekannten von früher trifft, der zu viel redet, zu viel trinkt und zu viel schwitzt." Dabei zeigt sich in dieser Szene, der natürlich die ganze Romantik der Opernbühne fehlt, dass es für diesen alten Bekannten beruflich im Moment, vorübergehend, nicht allzu gut läuft und dass er von Frau und Kind getrennt lebt. "Nach und nach stellt sich heraus, dass der einst so siegesgewisse Verlagsleiter, den man wegen seines ungeheuren Erfolgs bei Kommilitoninnen heimlich immer schon beneidet hatte, nach dem Controlling des Verlags durch eine einschlägige Unternehmensberatung seinen Hut nehmen und sich als Mittvierziger fortan von einem freien Lektorenjob zum nächsten durchschlagen musste. Man gewahrt plötzlich, wie jemand, mit dem man sich früher vergleichen konnte, den Boden unter den Füßen verliert."
Das Buch, in dem sich Bude mit solchen neuen Gesichtern der Armut befasst, heißt im Untertitel "Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft". Klarer kann man die gesellschaftliche Entwicklung in den westeuropäischen Industrieländern wahrscheinlich kaum auf den Punkt bringen. Die Angst vor dem sozialen Abstieg sitzt zunehmend mehr Menschen im Genick, die mit den Glücksverheißungen der Wohlstandsgesellschaft groß wurden, die sich in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts etabliert hatte.
In der preußischen Eisenbahn
Armut ist selbstverständlich kein neues Problem. Die einzige Gesellschaft, die keine Armut kannte, waren vermutlich die steinzeitlichen Horden, deren Mitglieder allesamt von einem Tag auf den nächsten ums Überleben kämpften. Armut ist so gesehen ein Produkt der gesellschaftlichen Weiterentwicklung, der Entstehung von Überschuss und von Reichtum. In seiner neuen Sozialgeschichte des Römischen Reichs schreibt beispielsweise der US-Historiker Richard Knapp: "Man darf zu Recht davon ausgehen, dass die breite Bevölkerung des Römischen Reiches an Armut litt. Die Armen waren freie Männer und Frauen, die überwiegend von der Hand in den Mund lebten, das heißt, sie hatten gerade genug, um satt zu werden, und selten genug, um zu sparen, zu investieren und eine Veränderung ihrer Situation herbeizuführen." In den Epigrammen des römischen Dichters Martial wird einer jener Armen als "unbegrabener Toter" geschildert, aus dem Torweg vertrieben, in dem er sich verkrochen hat, von Hunden gehetzt und in einen Kampf mit den Vögeln verstrickt, die ihm seinen letzten Bissen abzujagen versuchen.